Foto: Szene aus © Reinhard Winkler
Text:Volker Tzschucke, am 26. April 2023
Es hat zehn Jahre gedauert, bis der 2013er Tony-Award-Abräumer „Fun Home“ den Weg auf eine deutschsprachige Bühne fand. Die Musicalsparte des Landestheater Linz hat es nun geschafft. Das Warten hat sich gelohnt.
Die Graphic Novel „Fun Home“ von Alison Bechdel wurde bei ihrem Erscheinen 2006 gefeiert: Wie die queere Comicautorin ihre Familiengeschichte zeichnerisch aufarbeitete, galt als literarisches Meisterstück. Dass daraus durch Jeanine Tesori (Musik) und Lisa Kron (Text) 2013 ein Musical wurde, war angesichts der Vorliebe der queeren Gemeinschaft für das Genre nicht sehr verwunderlich – und auch dieses Stück heimste reihenweise Preise ein. Zehn Jahre dauerte es, bis „Fun Home“ nun seinen Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden hat. Es ist mal wieder die Musicalsparte des Landestheaters Linz, das für die Pionierarbeit verantwortlich zeichnet. Pünktlich zu ihrem zehnten Geburtstag, ein Jubiläum, das die Sparte mit dem gesamten neuen Musiktheater Linz gemeinsam feiert, sind Übersetzung und Inszenierung in der kleineren Spielstätte Black Box gelungen.
Alison räumt ihr Leben auf
Die Zeichenstube von Alison Bechdel (die Figur heißt wie die Original-Autorin) steht buchstäblich im erhöhten Zentrum, im Mittelpunkt der Drehbühne, die Karl Fehringer und Judith Leikauf für die Linzer Inszenierung geschaffen haben. Alison ist etwa 40, so alt, wie ihr Vater war, als er aus dem Leben schied. Sie kramt in Hinterlassenschaften, bricht auf in ihre Kindheit und Jugend. Es ist echte „Erinnerungsarbeit“, nicht nur seelisch, auch körperlich: Immer wieder räumt die erwachsene Alison auf in den Räumen der Vergangenheit, schiebt die Bühne weiter und damit die Dramaturgie vorwärts, schaut ihrer Familie und zwei jüngeren Ichs über die Schultern, ringt um Haltung und Textblasen, um ihre Vergangenheit zu kommentieren.
Da ist die Kindheit in den frühen 1970er Jahren in Beech Creek, Pennsylvania. Vater Bruce und Mutter Helen, beide engagierte Englisch-Lehrer, beide jedoch mit eigentlich anderen Interessen: Helen ist Schauspielerin, doch nur noch selten kann sie auf Bühnen brillieren. Bruce arbeitet sich an historischen Häusern ab, restauriert sie. Das eigene sieht aus wie ein Museum der viktorianischen Zeit, zum Darinleben kaum geeignet. Schon gar nicht, wenn man Kind ist wie Alison und ihre beiden Brüder. Da sind die Räume des familiären Bestattungsinstituts schon eher ein Abenteuerspielplatz. Sie machen aus dem Bechdel-Haus das Funeral, kurz: „Fun Home“.
Coming-Out und Suizid
Die zweite Vergangenheitsebene: Alison geht aufs College. Sie entdeckt hier ihre Sexualität. Ein Coming-Out zunächst für sich selbst, dann auch gegenüber der Familie sind die dramatischen Höhepunkte. Sie kommen zusammen mit der Entdeckung, dass ihr Vater nicht ganz das liebende Familienoberhaupt war, für den sie ihn hielt: Immer wieder brach er aus dem Bilderbuch-Familienleben aus, um Sex mit Männern zu haben. Die versteckte Homosexualität belastet die eheliche Beziehung, macht aus dem Vater ein unzugängliches Wesen, der Alison immer wieder in die Bahnen des Mainstreams zu lenken versucht: Nur nicht zeigen, dass man anders ist. Nur nicht auffallen! Bis zu seinem Ende hält der Vater dieses Motto für sein Leben die Treue. Selbst, als alle alles übereinander wissen, können sie nicht darüber reden. Es ist der Zeitpunkt, an dem der Vater den Suizid wählt.
Man könnte dem Stück vorwerfen, dass es zu viel auflöst, was die Graphic Novel im Unklaren lässt: Unfalltod oder Selbstmord – das ist im Musical keine Frage. Bruce‘ homosexuelle Beziehungen werden in Szenen gegossen. Die Rolle der Mutter ist eher klein gefasst. Statt stetig zu versteinern, bricht es irgendwann aus ihr heraus (was unweigerlich Punktabzüge im Bechdel-Test gibt, mindestens in der B-Note). Der Vater ist auch nicht das alles kontrollierende, dabei stets selbst höchst kontrollierte Ego, dem die Kinder jede Umarmung, jede Gefühlsregung abringen müssen. Er ist nicht der Minotauros, in dessen Labyrinth man sich verirrt, vor dem man wegrennen muss. (Und überhaupt reduzieren sich die literarischen Anspielungen des Originals auf ein paar Colette-Geschichten.) Das Musical simplifiziert auf allen Ebenen.
Brillante Stück-Struktur
Doch allein, wen stört’s. Denn: Es funktioniert. Weit weg von jeglicher Chronologie ist das Stück brillant strukturiert. Die Beklemmtheit der Familienverhältnisse, die Sprachlosigkeit, sie werden körperlich spürbar. Immer wieder brechen die Figuren dazu auf auszudrücken, was sie wollen – und immer wieder brechen sie ab. Die I-Want-Exposition: Sie will einfach niemandem gelingen. Es bleibt fragmentarisch, immer wieder greift eine andere Figur nach dem roten Faden, nach Sätzen der anderen – begleitet von einer herzerweichend aufspielenden Folkkapelle mit Gitarre, Cello, Reeds, Violine, Bass. Exemplarisch dafür der Song „Telefonmasten“, der die letzte Begegnung von Vater und Tochter untermalt.
Im heiteren musikalischen Gegensatz dazu und fürs Seelenheil der Besucher ebenso notwendig wie bekömmlich etwa der Werbespot fürs Fun Home, den die drei Geschwisterkinder im Jackson-Five-Stil aufnehmen: „Hier bei Bechdel stirbt es sich fein!“. Oder der „Schlüsselbund“-Song, in dem die junge Alison entdeckt, dass Frauen sich auch anders als weiblich geben dürfen. Und natürlich der Coming-Out-Song der mittleren Alison „Mein Hauptfach ab heute ist Joan“: Man stellt sich die diebische Freude von Übersetzer Roman Hinze vor in dem Moment, in dem er Sätze wie „Sie sabbert aufs Kissen – wie süß“ über die Noten schreiben darf. An diesen Stellen darf dann auch die Band unter musikalischer Leitung von Tom Bitterlich so richtig abgehen und zeigen, was in ihr steckt.
So bekommt in „Fun Home“, einem eigentlich elegischen Stück, doch jede Figur ihre eigene Nummer eingestreut, in der sie schauspielerisch und gesanglich herausragen darf. Diese Gelegenheiten nutzen die drei Alisons Sanne Mieloo (erwachsene A.), Celina dos Santos (mittlere A.) und – am Besuchsabend – Rosa Gruber (A. als Kind) ebenso wie Karsten Kenzel (Vater Bruce) und Daniela Dett (Mutter Helen). Bettina Schurek (Joan) und Christian Fröhlich (Roy, Mark, Pete, Bobby Jeremy) füllen ihre Nebenrollen mehr als aus und die Ensemble-Nummern auf, die beiden Jungen-Darsteller Gabriel Federspieler und Michael Falkner (Alisons Brüder Christian und John) beweisen gelungene Nachwuchsarbeit.
Die Stück-Akquise, die Übersetzung, die Ensemble-Arbeit, die musikalische Gestaltung, die Inszenierung – sie funktionieren im zehnten Jahr der Musicalsparte am Linzer Landestheater. Nachahmer müssten sich ermutigt fühlen. Auch zur Übernahme von „Fun Home“ an ein Theater in Deutschland.