Foto: Jürgen Wink, Björn Bonn und Anke Stedingk als perfekte Familie in "Testosteron" am Staatstheater Kassel. © N. Klinger
Text:Jens Fischer, am 26. November 2012
Auf Risikovermeidung optimiert haben sie ihr Leben. Überfreundlich erfolgreich lächelt Arztfamilie Klemmer vor einem monströsen Schrankwand-Relief im gülden verschnörkelten Bühnenbildrahmen. In TV-Moderatoren-Diktion präsentiert sie ihre Bildungsbürgeridylle – eine Soap Opera der Reichen und Schöngemachten. Als „Der Patriarch“ stellt sich der Vater vor und „Der gute Sohn“ als eben dieser. „Gutes Viertel“ ist ihre Heimat, hier treffen sich „gleichgestellte Paare nachts zu einvernehmlich lahmen Sex“, wie es später heißt, hier schotten sie sich ab von dem, was nur im Fernsehen noch wahrgenommen ist: Verbrechen, Gewalt, Armut und schnödes Mehrheitsleben in „schlechtes Viertel“.
Mit einem Hausmusikabend zelebrieren Klemmers ihr asoziales Kunstparadies, finanzieren aus Lebenslügenscham aber auch ein Ausstiegsprogramm für Prostituierte. Alles vorbereitet also für Rebekka Kricheldorfs so gern genutzte Dramaturgie von Horrorfilm oder Schauerromantik-Roman: Das ganz Andere – Verdrängtes, Urängste, Sehnsüchte – taucht plötzlich irrealistisch als personifizierter Widerspruch in der banalen Gegenwart auf. Aus der Schrankwand stolpern, fallen, klettern das „gefallene Mädchen“, ihr Vater und „Zuhälter“ in Personalunion sowie „Der schlechte Sohn“. Feierlicher wird der Sprechduktus – als wären wir bei Shakespeare/Schiller.
Beeindruckend wie akkurat beiläufig Kricheldorf den Alltagsjargon mit Blankvers und Satirelust als Kunstsprache pointiert. Und Theaterfeuerwerksfunken aus dem unversöhnlichen Konflikt schlägt, also dem zwischen den Söhnen, ihren unterschiedlichen sozialen Milieus und den daraus resultierenden Gegenentwürfen zum Thema Männlichkeit. Raul ist der vulgäre Provokateur, Mr. Testosteron als cooler Auftragskiller, aus einem schlechten Hollywoodfilm herauskopiert und aus „ganz schlechtes Viertel“ importiert. Normale Männer hält er für „beschissene Memmen“ wie eben auch Bruder Ingo, das leibhaftige Beispiel für Frauenklagen über den Verlust wahrer Machos. Ingo riecht nicht nach Freiheit und Abenteuer, sondern frisch gefönt, warm geduscht, trägt Kuschelpulli, spricht blass-brav mit Frauen anstatt forsch zuzupacken. Diesbezüglich wird „Der Zuhälter“ aktiv und entführt Ingos Freundin. Plötzlich ist der gute der schlechte, der schlechte der gute Sohn: Jetzt brauchen Klemmers einen echten Kerl als Söldner, schmücken Raul mit den Insignien der Macht: Waffen.
Rambo-Raul zieht massakrierend los – und kehrt mit einer Gefühlsregung zurück: Liebe oder so. Ein imageschädigend zärtliches Gefühl. Auch die wieder befreite „Wohlstandstussi“ distanziert sich nun nicht mehr angeekelt von Raul, sondern räkelt geil um ihn herum, will lieber schmutzigen Sex statt goldenen Käfig. La Belle et la Bête. Mal Lust auf anderes. Immer lustig. Und damit es nicht tragisch wird, bleibt es Episode. Die wilden Kerle und das mit allen Wassern gewaschene „gefallene Mädchen“ kommen auf die und andere Art um. Was ist so schlecht am guten Leben? So die rhetorische Frage der Überlebenden.
Schirin Khodadadian, die in Kassel schon Kricheldorf-Uraufführungserfahrung gesammelt hat, erfindet dem schrillen Plot noch reichlich schrille Inszenierungsgags hinzu, jagt das gute Komödianten-Ensemble durch die verschiedenen Sprach- und Spielformate aus Literatur, Märchen, Musik, Theater, Film. Aber es rächt sich, dass Kricheldorf geradezu stilbildend darauf verzichtet, moralische Dramen zu schreiben, also aus den schwarzhumorig ausgestellten Fundstücken der Realität keine Schlüsse zieht. So ist die Uraufführung von „Testosteron“ eine Comic-Comedy, die Klischees vorführt, anstatt ihre Faszination zu ergründen, auch nicht das Fürchten lehrt, da sie die Bühnenfiguren nur als Stereotypen feiert. Dabei aber bestens, wenn auch risikolos unterhält.