"Everybody needs Some/Body" mit David Moore und Fernanda De Souza Lopes

Comeback der Beweglichkeit

Ballettensemble Stuttgart: Response I

Theater:Stuttgarter Ballett, Premiere:25.07.2020 (UA)Regie:Louis Stiens, Fabio Adorisio, Roman Novitzky u. a.

Was für ein Comeback! Die erste Wiederbegegnung von Tänzern und Zuschauern in der Stuttgarter Oper erweist sich als überaus berührend. Auf der Großen Bühne gab es innerhalb von zwei Tagen drei „analoge“ Vorstellungen zu erleben, mit denen sich das Eliteensemble in die Sommerpause verabschiedete. Aber die drei Auftrags- und drei Repertoirestücke – allesamt coronatauglich – hatten es in sich!

Vorschriftsgemäß fanden die Aufführungen vor weit mehr leeren als besetzten Plätzen statt. Immerhin bot die Liveübertragung der Premiere ins Autokino auf dem Areal des Cannstatter Wasens – auch als Ersatz für das entfallene Saisonfinale-Format „Ballett im Park“ gedacht – einen kleinen Trost für alle, die beim Run auf die wenigen Indoor-Karten (19.000 Anrufer allein in der ersten Vorverkaufsstunde!) leer ausgegangen waren. 1000 Fahrzeugbesitzer beziehungsweise in Holzboxen platzierte Fans konnten so zusätzlich mit dabei sein. Großsponsor Porsche, dessen Automobilproduktion lediglich vier Wochen pausieren musste – im Gegensatz zum bis jetzt lahmgelegten Stuttgarter Ballett –, hat sich hier aufs Neue verdient gemacht.

Anzeige

Es ist ein hart erkämpfter, hochemotionaler Premierenabend in schwierigen Zeiten. Tamas Detrich, Stuttgarts Ballettintendant, hat ihn gegen zahlreiche Widerstände aus Politik und Verwaltung durchgesetzt. Seiner Kompanie und sich selbst hat er damit – an seinem 61. Geburtstag – das denkbar größte Geschenk gemacht. Unter dem lakonischen Titel „Response I“ teilt er es mit einem völlig ausgehungerten Ballettpublikum. Das Ergebnis spricht für sich: Fabulös gelingen ausdrucksstarke Neukreationen, die das Thema „Corona“ zum Inhalt haben, auf höchstem künstlerischen Niveau.

Vorangegangen waren eine lange heimische Isolation und ein Tanz-Lockdown ab 13. März, der nicht nur das Stuttgarter Ballett mit zehn Covid-19-Infektionen im Ensemble nach einem Gastspiel in Friedrichshafen auf noch unabsehbare Zeit aus dem gewohnten künstlerischen Rhythmus kickte. Eine pikante Randnotiz stellt der Umstand dar, dass die Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzer auf Detrichs Betreiben hin mittlerweile offiziell als Hochleistungssportler anerkannt sind. Erst durch diesen Status ist es ihnen erneut erlaubt, so effektiv zu trainieren wie es Leichtathleten oder Profifußballer schon seit längerem wieder dürfen. Eigentlich sollte dies für alle Profis in der gesamten Tanzsparte gelten!

Detrichs dynamischer Antwort auf die Ausnahmesituation merkt man dabei nicht an, welche Hürden intern zu überwinden waren und weiterhin sind. Weder qualitativ noch tänzerisch-konditionell. Die Fortsetzung im Herbst ist bereits angekündigt. Einen solchen vollwertigen Ballettabend zu stemmen, ist ein gigantisches Signal, ein Leuchtfeuer der Kreativität angesichts größter Schwierigkeiten. Das darf die Politik keinesfalls übersehen! Gerade weil der Neustart – von außen betrachtet – derart reibungsfrei flutscht, fügt sich der auf Bühnenportalmaß projizierte Video-Zusammenschnitt „#WESTAYHOME“ als wichtiger Baustein vor dem finalen Rausschmeißer – Béjarts „Bolero“ – in die zweistündige, pausenlose Liveaufführung gut ein. Eine Reminiszenz an die digitalen Lebenszeichen der Kompaniemitglieder, bereits während der Corona-Kernkrise online gestellt.

Hier wird ein Blick zurückgeworfen auf eindrückliche Alltagsmomente der Tänzerinnen und Tänzer, ehe sie Ende April mit erst neun, dann sechs und nun drei Metern Abstandswahrung in den Ballettsaal zurückkehren konnten. Kurze, vielsagende Einblicke, die einen unmittelbar anspringen, nachdenklich machen oder einfach nur zum Lachen bringen. Gerade in der hohen Abspielgeschwindigkeit spiegelt sich das fatale Durststreckengefühl wider, das überwunden werden musste. Nach Stunden fast normalen Treibens auf den Straßen, in Geschäften und Restaurantbetrieben rundherum gleicht der Gang ins Theater mit viel Personal und ausgeklügelter Wegeführung allerdings dem Besuch eines Hochsicherheitstrakts. Während sich die Menschen im Freien querbeet treffen und feiern, gilt on stage weiterhin: „Paare, die zusammen tanzen, wohnen in einem Haushalt.“ Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer sich auf einen Pas de deux einlässt, geradezu magnetisch zueinander hingezogen wie David Moore und Fernanda De Souza Lopes in Roman Novitzkys Uraufführung „Everybody needs Some/Body“, wer sich rücklings vertrauensvoll in die Arme eines anderen fallen oder von diesem umschlingen beziehungsweise herumwirbeln lässt, gibt angesichts des derzeit noch geltenden Regelkodex über die Rolleninterpretation hinaus auch ganz Persönliches preis. Unfreiwillig und jenseits von Facebook.

Anders verhält es sich mit der Öffnung nach außen, wenn sich Choreographen ein- und derselben Aufgabe stellen und die Ergebnisse entsprechend ihrer künstlerischen Individualitäten ganz unterschiedlich ausfallen. Zum Bauhaus-Jubiläum gab es am Beginn der Intendanz von Tamas Detrich ein vergleichbares Vorhaben schon einmal. „Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage mitsamt all ihren Auflagen“ beauftragte Detrich nun die Halbsolisten Louis Stiens und Fabio Adorisio sowie den Ersten Solisten Roman Novitzky mit 15- bis 40-minütigen Tanzwerken. Kreationen zu Live-Musik, die in kleiner Besetzung von Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart begleitet wurden.

„Ich sitze auf einem Meer aus Blütenblättern und lächle beim Weinen.“ Diesen situationsbezogen treffenden, aber auch generell poetischen und den jungen Mann gut charakterisierenden Satz hat Louis Stiens seiner jüngsten Arbeit „Petals“ zur Seite gestellt: ein Quartett für zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer. Stiens‘ selbstentworfene Kostüme ordnen Agnes Su und Martí Fernandez Paixà der Menschenwelt zu, während Angelina Zuccarini und Shaked Heller aus dem Schatten, einem Reich der Angst, Dunkelheit und Bedrohung kommen. Stiens ist zweifelsohne der eigenwilligste und vielleicht „spleenigste“ unter den Nachwuchschoreographen, die seit Detrichs Amtsantritt besondere Förderung genießen. Wie er es schafft, Inhalte hochgradig zu abstrahieren und zu verfremden, dabei den Zuschauern aber trotzdem einen stringent themenaffinen Handlungsablauf unterzujubeln, ist schlicht wunderbar.

Zwei Stühle stehen vereinzelt im Raum. Nähe, so drücken es die Auftritte von Su und Paixà in ihrer farbsatten Kleidung aus, kann nicht sein. Also umspülen ihre Bewegungen das Mobiliar, verschmelzen damit oder richten sich aufgebracht dagegen. Alastair Bannerman begleitet am Klavier vom Orchestergraben aus das auf der rechten Bühnenseite immer wieder auf sich selbst zurückgeworfene Treiben mit Stücken von Scarlatti und Couperin. Als von der linken Seite zwei in enge schwarze Trikots gehüllte Körper mit grün verschatteter Augenpartie auf das bereits bespielte Areal und die Stühle zumäandern, öffnet sich plötzlich eine weitere Dimension. Den Assoziationen sind keine Grenzen gesetzt. Wer will, erkennt in der choreographisch schön dahinfließenden Abfolge von unterschiedlichem Aufeinanderzugehen und herrlich quadratisch angelegten Tuttipassagen das Ringen um ein Miteinander – zwischen Mann und Frau und etwas Unsichtbarem, Nichtgreifbarem.

Mit leeren Händen stehen Elisa Badenes, Hyo-Jung Kang, Vittoria Girelli, Timoor Afshar und Flemming Puthenpurayil am Ende von Fabio Adorisios Choreographie „Empty Hands“ da. Die Finger und ihre Handflächen krümmen sich vorher schon wiederholt behutsam zueinander, als müsste ein Kopf die Leerstelle dazwischen füllen. In Erinnerung behält man die großen Kreisformationen der fünf Interpreten, solistisches Flackern, ein Männerduett – in der Diagonale achsengespiegelt auf Distanz –, und dass sich die Oberkörper der Tänzerinnen und Tänzer oft nach vorne beugen. Adorisios Sprache für die Last des Durchhaltewillens bleibt abstrakt. Ein Dahinplätschern – unterbrochen von momentartigem Vor- und Zurückspulen kurzer Bewegungssequenzen.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Corona entfaltet sich hier sowohl in ästhetischer Dichte als auch in visuell einprägsamer Kürze. Auf einem Podest im Hintergrund spielen die Musiker „Lachrimae“ – Bryce Dessners erste Komposition für Streichorchester. Klänge, die sich anfangs sphärisch leise anschleichen, dann zunehmend an Kontur gewinnen und diverse Schrägen und Turbulenzen entwickeln.

Den Titel „Everybody needs Some/Body“ von Roman Novitzky darf man wörtlich verstehen. Wie schon bei seinem Kollegen Adorisio schließt das Orchester den Bühnenraum nach hinten ab. Zu hören bekommen wir Max Richters Neukomposition „Winter“ und „Frühling“ nach Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Stücke mit musikalischem Drive, die schon viele Choreographen verwendet haben. Im Vordergrund: sechs Ständer mit Kleiderpuppen-Bodies auf Rollen. An ihnen halten sich die drei Tänzerinnen (Fernanda De Souza Lopes, Diana Ionescu, Paula Rezende) und die drei Tänzer (David Moore, Christopher Kunzelmann, Martino Semenzato) große Teile des Stücks trist fest.

Das Objekt wird zum Partner, zum umarmten Gegenüber, vor dem plötzlich erschreckt ins bodentiefe Cambré ausgewichen wird. Nicht immer finden solche Reaktionen ganz synchron statt. Ob mit Absicht oder nicht, bleibt offen. Novitzky hat sein Stück jedenfalls mit allen möglichen Facetten von Irritation beim Sich-Gegenübertreten oder Annähern angereichert. Mittendrin der oben erwähnte Pas de deux. Fast möchte man aufatmen. Doch letztlich, nach vielen Drehungen um sich selbst, finden sich alle am Ausgangspunkt der Choreographie neben ihrem leblosen Requisitendummy wieder. Hoffentlich nicht mehr lang.

Alle drei Stücke sollen als stabile Eckpfeiler fungieren für die kommenden Vorstellungen in der nächsten Spielzeit dieser ersten „Response“-Ausgabe. Variabel aber bleibt, welche Klassiker, Evergreens, Galastücke oder Repertoireausschnitte den Zuschauern dazwischen in Zukunft präsentiert werden. Zum Auftakt am 25. Juli interpretierte die Erste Solistin Anna Osadcenko Fokins legendären „Sterbenden Schwan“ in vollendeter An- und Schwermut. Hans van Manens humorig-virtuoses „Solo“ zu Bachs Partita Nr. 1 für Violine teilten sich die Tänzer Adhonay Soares da Silva, Fabio Adorisio und Matteo Miccini (letzterer ab nächster Spielzeit Halbsolist). Mit wendigen Schritten und großen Armgesten flitzen da drei Kollegen übers Parkett. Erst streng hintereinander, später überlappen ihre Auftritte kurz. Einer wirft dem anderen quasi im Adrenalinfuror den Spielball hin. Zuletzt wird gemeinsam in einer Reihe aufgetrumpft. Der ein kleinwenig breitere Abstand zwischen den drei stört dieses finale Applauseinholen überhaupt nicht. Das Meisterstück van Manens – 1997 erstmals in Stuttgart präsentiert – passt einfach perfekt in den Wir-sind-trotz-Corona-da-Rahmen.

Standing Ovations verdiente sich ganz zum Schluss Ausnahmetänzer Friedemann Vogel. Takt für Takt strotzt sein Körper in Maurice Béjarts „Boléro“ nur so vor krafterfüllter Perfektion. Hoch oben auf dem runden roten Tisch verwandelt er sich als personifizierte Melodie zu Ravels sich steigernder Rhythmik in eine solistische Energieschleuder. Anfangs noch auf Einteilung seiner Ressourcen bedacht. Dann aber den immer herausfordernden Blick auf die statt 18 nur mehr acht zugelassenen Rhythmus-Boys am Boden um ihn herum und gen Publikum gerichtet. Mit einem Lächeln, das sich zum befreiten Lachen steigert. Eine brillant dargebotene Tour de force, die diesmal in der Glückseligkeit gipfelt, sich künstlerisch endlich wieder live auf der Bühne verausgaben zu können. Man schaudert beim Gedanken, das könnte uns verloren gehen.

Im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater wurde vor 74 Jahren der Grundstein für den Wiederaufbau Deutschlands gelegt. Eine Gedenktafel im Eingangsfoyer der Stuttgarter Oper erinnert an die eindringlichen Worte des damaligen US-Außenministers James F. Byrnes, dass „das amerikanische Volk dem deutschen Volk helfen will, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt.“ Am selben Ort begann jetzt die Re-Etablierung des Musiktheaters in unserer corona-erschütterten Gesellschaft. Das bewerkstelligt zu haben, dürfen sich das Stuttgarter Ballett – eine Spitzentruppe, in der sich Künstler aus 24 Ländern vereint in den Dienst einer höheren Sache stellen – und der gebürtige New Yorker ungarischer Herkunft Tamas Detrich von nun an auf die Fahnen schreiben.