Text:Detlev Baur, am 16. Dezember 2020
Milo Rau ist ein genialer Verknüpfer großer politischer und poetischer Zusammenhänge. Die „Orestie“ verband in einer schon weitgehend filmischen Theaterinszenierung Gewalt und Justiz im IS-gebeutelten Irak mit dem antiken Drama. Mit dem Film „Das Neue Evangelium“ geht der Regisseur nun ins süditalienische Matera, 2019, im Jahr des Drehs, Kulturhauptstadt Europas mit historischem Stadtkern. Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson nutzten den an Jersualem gemahnenden Ort auf einem Bergrücken für ihre Jesus-Filme. Und Pasolinis Jesus-Darsteller Enrique Irazoqui wirkt (kurz vor seinem Tod) ebenso mit wie Maia Morgenstern, die wie schon in Gibsons Film die Maria spielt. Dieser neue Film ist – anders als es der mit Bach-Musik gesättigte Vorspann um die Kreuzigung anzudeuten scheint – natürlich kein Historienschinken für die Weihnachtszeit.
Vielmehr nutzt Rau die Passionsgeschichte Jesu für Zeit- und Ortssprünge: mit dokumentarischen Aufnahmen von schwarzen, ausgebeuteten und in Ruinen hausenden Erntehelfern in der Gegend um Matera; auch mit Gesprächen mit dem Aktivisten Yvan Sagnet um den politischen Kampf für Gerechtigkeit und Würde der Migranten in Italien oder um praktische Fragen der Gestaltung seiner Rolle: Denn Sagnet verkörpert in kurzen Spielszenen den Jesus, der am Meeresstrand von seinem „Vorgänger“ Irazoqui als Johannes getauft wird. Über diese historisch gewandeten Szenen hinaus spielen Proben und Making-of-Szenen eine große Rolle. So coacht Irazoqui Sagnet als Jesus in der Begegnung mit zwei Schriftgelehrten. Auch der Macher Milo Rau ist zu sehen beim Casting von Laienspielern in einem Kirchenraum, bis hin zur erschütternd sadistisch-rassistischen Folterung eines Stuhls durch einen jungen Bewerber. Oder am Rande einer Demonstration der Bewegung „Revolte für die Würde“: Wie weit das Filmteam um Jesus-Aktivist Sagnet und dessen Regisseur Rau da auch in der politischen Realität in und um Matera Regie führte, bleibt unklar; die Polizei passt auf jeden Fall ebenso gut ins Bild wie der Bürgermeister, der in der Spielszene des Kreuzwegs als Simon von Kyrene Jesu‘ Kreuz trägt, wobei das Vorgespräch und seine Einkleidung ins historische Gewand mindestens genau so großen Raum einnimmt.
Nachdem ein Wohnlager der Migranten geräumt wird, sie obdachlos sind, einer ob der erfolglosen Aktivitäten von Sagnet sich zum Judas wandelt, ist eine Gruppe historischer Jünger mit Jesus an der Spitze auf dem Weg in die Stadt zu sehen. In einer Bauruine findet das pittoreske letzte Abendmahl statt, Jesus betet zu Gott, bis ein Auto erscheint und Soldaten – mit Rüstungen aus einem lokalen Historienspiel, in dessen Fundus wir vorher zu Gast waren – Jesus auf den Judas-Kuss hin mitnehmen.
Rau und sein Team verknüpfen die Ebenen virtuos. Auch die Kamerabilder pendeln zwischen farbreichem Historiendrama und Dokumentation von aktuellem Schmutz, zeigen den Bruch aller Fassaden gleich mit. Die Sehnsucht aus Pasolinis Film scheint in Zitaten auf, wenn Mitwirkende des neuen Films den Vorgänger im Kino betrachten. Hier und in anderen Szenen kommt Raus große inszenatorische Stärke zum Tragen, wie sie sich auch in seinen Theaterarbeiten immer wieder zeigt: Menschliche Gesichter beim empathischen Zusehen und Zuhören. Auch Sagnet ist als Jesus ein milder Zuhörer. Und doch stellt sich immer wieder die Frage, wie das Wirken eines ausgesprochen unpolitischen Messias alias Sohn Gottes zusammenpasst mit dem eines politischen Aktivisten, der Gerechtigkeit und Würde fordert, aber keine metaphysischen Anliegen zu haben scheint. Der Film ist dramaturgisch so geschickt komponiert, dass all diese Fragen und Reibungen Teil des Konzepts und keineswegs mit optischen oder akustischen Mitteln übertüncht würden.
Und doch bleibt gerade bei der, von echten Touristen fotografisch verfolgten, Kreuzigung eine gewisse Leere. Marias Trauer wirkt exaltiert, Jesu Tod lässt einen eher kalt. Zur Eröffnung seiner Genter Intendanz hat Milo Rau 2018 den Genter Altar als „Lam Gods“ mit Schauspielern und Bürgern der Stadt um das Thema Opfer im Alltag inszeniert. Nun nutzt er die Bibel weiter als passende Dichtung, nicht als metaphysischen Text, um den Kampf für dringende soziale Änderungen im Umgang mit Migranten anschaulich zu machen und in einer Mischung aus Dichtung und Realität anzumahnen. Rau bleibt kritisch und glaubt doch mit Sagnet an den Kampf um Gerechtigkeit und Würde. Im Abspann findet der ehemalige Jesus fair erwirtschaftete Tomaten in einem Supermarkt; die Bewegung hatte schon einen gewissen Erfolg. Das ist keine weihnachtliche Botschaft, aber eine politisch-poetische.
Der Kinofilm wird nun in Zusammenarbeit mit Kinos per Stream gezeigt – und ist auch damit auch im Vertrieb in enger Nähe zu Theater-Streamings. Das Online-Kinoticket ist hier erhältlich.