Foto: Michael Pietsch als Gott Apollon mit Orest-Marionette und Erinnyen-Geier © Thomas Aurin/Schauspiel Frankfurt
Text:Andreas Falentin, am 22. Februar 2020
Jan-Christoph Gockel betrachtet die „Orestie“ als zivilisationskritisches Weltdrama par excellence. Um die dreiteilige Tragödie in sich schlüssig zu erzählen und sie gleichzeitig nach heute – und darüber hinaus – fortzuschreiben, setzt er auf drei Ausdrucksebenen, die ständig interagieren und sich ständig überlagern: Schauspiel, Puppenspiel, Hörspiel.
Leer ist der gewaltige, quadratische Raum mit den monumental angerosteten Wänden, den Julia Kurzweg erdacht hat. Auf den eisernen Vorhang werden künstliche, kunstvolle Gesichter projiziert. Wir hören Stimmen, immer wieder auch übereinander, die wirres Zeug reden, manchmal mit, eine Art Special Guest, der Stimme von Heiner Müller. Nach kurzer Zeit ahnen wir: wir sind in einer Art Ausstellung. Die Befehle und Erklärungen folgen Audio-Guide-Gesetzmäßigkeiten. Dessen Inhalt sind Stoff und Rezeptionsgeschichte von Atridenfluch und –tragödie. Wir erfahren zwanglos die Vorgeschichte und viele nützliche Zusatzinformationen, die Aufführung ist also fast ohne jede Vorkenntnis zu genießen. Und wir sind froh, dass wir nicht so tun müssen, als ob, dass wir nicht tatsächlich scheinpartizipativ gelenkt etwas tun, Folge leisten müssen. Endlich Menschen, zur Gruppe zusammengedrängt, in heutiges Schwarz gewandet. Mit den Kostüm-Schnitten spielt Amit Epstein elegant auf die zeitliche Distanz, auf die Formen antiker Statuen an. Wir sehen offensichtlich den Chor. Der Vorhang senkt und hebt sich. Wir sehen einzelne Menschen im Raum verteilt, jeweils Aug in Aug mit einer, wohl mit ihrer Puppe. Audio-Guide-Fetzen weisen Identitäten zu. Endlich beginnt das Spiel.
Agamemnon, Kassandra, Klytaimestra, Aigisthos lösen sich ohne Kostümwechsel aus dem Chor und behaupten ihre Figuren mit der deutschen Prosafassung von Peter Stein, die auf den Proben offensichtlich gekürzt, überformt, überschrieben und mit neuen Texten versetzt wurde. Der Chor verhält sich, beherrscht die Szene, spricht aber nicht. Umso mehr definiert und dominiert das Aischylos’sche Verhältnis vom Einzelnen in der Gemeinschaft, das gegenseitige Sich-Ausgeliefert-Sein bei gleichzeitiger, schwer zu fassender Komplizenschaft diesen ersten Teil. Und Katharina Linder (Klytaimestra) und Torsten Flassig (Kassandra), die, wie das komplette Ensemble, auf sehr hohem Niveau unforciert, unmikrofoniert und den Text strukturiert vermittelnd sprechen. Und uns geradezu heranzerren an ihre Figuren, die so gar nichts mit zum Klischee geronnener Antikendarstellung oder bewusster Abgrenzung von hohlem Pathos zu tun haben. Hier wird einfach der Raum, den die Inszenierung bietet, für hinreißendes Theaterspiel genutzt.
Dann wird es bunt. Ein Umbau auf offener Bühne verwandelt den Raum in eine Theater- und Kinderspielwelt. Mit der Bildidee geht es in die Pause. Wir dürfen uns freuen. Auf Elektra (Altine Emini) und Orest (Samuel Simon) in Kriegsbemalung, die bibbern vor der Mordtat an Mutter und Stiefvater, die sie, wir wissen es, doch ausführen werden. Das wird, in der Länge, unerträglich und fasziniert doch jeden Moment mehr. Wie Orest unter die Bühne flieht und dort, von der Live-Kamera eingefangen, aus Versehen ins Toten- oder Legendenreich (oder Ausstellungsdepot?) gerät, wo Agamemnon („Du schaffst das!“) und Kassandra prächtig und fantasmagorisch gewandet auf Stühlen mit ihrem Namen sitzen neben leeren Sitzgelegenheiten für alle anderen. Wie er sich endlich seiner Mutter nähert, die, daran lässt Katharina Linder keinen Zweifel, sich zerstört hat durch den Mord an ihrem Mann und aus nichts mehr besteht als aus ihrem Stolz. Wie Klytaimestra einfach nicht sterben will. Und immer wieder wechselt das Licht abrupt und weitet diesen Raum, lässt ihn mal als Spielplatz, mal als Wohnzimmer, mal als Hölle erscheinen.
Nach dem Mord: Dunkelheit und Nebel. Immer wieder rollt Orest über den Boden, von hinten nach vorn. Michael Pietsch, Gott Apollon und Puppenbauer und -spieler in einer Person, hat eine Orest-Marionette und eine aus echtem Tier designte Geier-Marionette dabei. Diese spielt die Erinnyen, die Rachegeister, und verfolgt Orest mit deutschem Volksgut, von „Hänschen klein“ bis „Zauberflöte“ und wieder zurück, rasend schnell wechselnde Fetzen, mit computerverzerrter Stimme gesungen und überraschenderweise überhaupt nicht aus der Luft gegriffen als Libretto für virtuelle Kopfgeldjäger.
Dann die Auflösung: Die Göttin Athene ist ein Mädchen, halb Mensch, halb Puppe, vielleicht Teil der Installation, zu der uns der Audio Guide zuteilwurde, vielleicht deren und dessen Zielgruppe. Wir erfahren: Alles war Rückschau, war Spurensuche. Ein Volk hat Reste einer aus seiner Sicht kurzlebigen und unbedeutenden Zivilisation, der menschlichen, gefunden und versucht, sie und ihr Scheitern zu rekonstruieren. Und findet in der „Orestie“ die zentrale Metapher für eine Unterwerfung unter ein selbstgemachtes System, das auf Machtwille, -erhalt und –zuwachs basiert und von den Menschen nie infrage gestellt wurde, gleich gar nicht durch den Wechsel zu demokratischen Strukturen.
„Ich bitte um Änderung. Ich bitte um ein Ende.“ Dreimal, in jedem Teil einmal, beginnt Christoph Pütthoff so einen Monolog. Das Zentrum dieses Abends. Die Perspektive von unten. Unsere. Der Stellvertreter der zahlreichen Boten, Wächter und Diener bei Aischylos erzählt uns von seiner Angst, davon, dass er bemerkt, wie er mitrollt auf der schiefen Ebene, die nur in den Abgrund führen kann. Ob man denn nicht einfach etwas anders machen kann? Um eine Perspektive zu finden, die Angst nimmt, statt sie anzustacheln? Christoph Pütthoff erzählt lächelnd, plastisch, mit Esprit. Er unterhält uns und lässt uns denken. Er jammert nicht.
Jan-Christoph Gockel und sein Team haben den antiken Text in seiner Tragweite ernst genommen und eine aufregende Bild- und Klangwelt für ihn gefunden. Die vielen Interpolationen, die An-, Aus- und Umdeutungen geben gewiss kein homogenes Bild, fügen sich aber auf der Bedeutungsebene stringent zusammen. Die Geschmeidigkeit und Vielfalt des Soundtracks von Matthias Grübel, der klare Raum von Julia Kurzweg, die sinnlichen, dem Leben abgelauschten und doch eleganten Kostüme von Amit Epstein schwingen zusammen und folgen der Inszenierungsidee. Der nuancierte, unangestrengte Umgang mit der Sprache prägt sich ein und wirkt nach wie viele überraschende Details, von denen keines überflüssig daher kommt.
Es ist keine gute Welt, in der der Chor nicht mehr sprechen kann. In der die Mutter die Familienfotos zerreißt, aber Brad Pitt auf dem „Troja“-Filmplakat weiter an der Wand hängt. In der die jungen Menschen allein gelassen werden, so dass sie werden wie ihre Eltern. Und Regeln befolgen, ohne sie zu befragen. Wir wollen eine Änderung, oder? Die „Orestie“ ermutigt uns. Ausdrücklich.