Foto: "Bastien und Bastienne" an der Oper Halle. Vanessa Waldhart, Michael Zehe und Robert Sellier © Falk Wenzel
Text:Joachim Lange, am 25. November 2018
Auf so eine Idee wie die Oper in Halle muss man erstmal kommen: Mozarts Schäferspiel „Bastien und Bastienne“ aus dem Jahre 1768 und Alexander von Zemlinskys 1917 uraufgeführten Einakter „Eine florentinische Tragödie“ zu einem Opernabend zu machen! Zwei Werke also, die selbst beim interessierten Publikum nicht so ohne weiteres präsent sind.
Das erste ist gleichsam eine der Singspiel-Fingerübungen eines zwölfjährigen Wunderkindes. Da man weiß, von welchem Genie sie stammt, wird die vor sich hinplätschernde Musik wie von selbst im Kopf des Hörers von Mozarts reifem Werk sozusagen rückwirkend beleuchtet. Der Wow-mit-12-Effekt zieht natürlich. Dafür ist das zweite Stück ein dramatisches Schwergewicht, für das sich das Orchester ins Zeug legen muss. Die Musiker der Staatskapelle Halle, die vom klassischen und modernen Repertoire ja mühelos in den barocken Händel-Modus wechseln können, bewähren sich hier unter der Leitung von Christopher Sprenger mit bemerkenswerter Souveränität.
Alexander von Zemlinsky (1871-1942) gehört zu den Komponisten, die es im übermächtigen Schatten von Richard Strauss immer noch schwer haben und zum Objekt von Ausgrabungsambitionen taugen. Musikalisch können die beiden Stücke unterschiedlicher nicht sein. Der Reiz liegt bei dieser Kombination im Kontrast. Bei den Libretti ist es so ähnlich. Das für Mozart geht immerhin auf die Parodie eines Stückes von Jean-Jacques Rousseau zurück, für Zemlinsky lieferte Oscar Wilde die Vorlage. Wenn auch auf ganz verschiedene Weise geht es in beiden Stücke um Beziehungen. Jeweils ein Paar in einer Krise, bei dem ein Dritter dazu kommt, die Situation zuspitzt und zur Lösung beiträgt. Hier als geradezu spielerische (Wieder-)Annäherung, dort als Katastrophe. Für diese szenischen Diagnosen erweist sich der mit der ganz großen Oper von Wagner bis Meyerbeer in den letzten Jahren höchst erfolgreiche Regisseur Tobias Kratzer als der Richtige.
Für den ersten Teil des Abends hat Ausstatter Rainer Sellmaier drei nach hinten führende Stege auf die Bühne gestellt, die den drei Akteueren ihren Platz zuweist. Vorn ein Tisch mit Laptop, über den heute jeder Jugendliche verfügt. Und mit dem Zugang zu den Chatforen samt der Sprechblasensprache, den Emojis und Selbstinszenierungen für die Cam, ohne die es heute offenbar kaum noch geht. Hier läuft die Kommunikation der beiden Teenager ab, die sich ihrer eigenen Beziehungswünsche und der erwachenden Sexualität gerade bewusst werden. Die doppeldeutige Aubergine, die den Programmzettel ziert (und den zotenliebenden Mozart sicher amüsiert hätte), gibts beim Sex am PC dann auch mal in echt, was wohl die Empfehlung eines Besuchs der Vorstellung ab 16 (und ein paar Buhs am Ende des ersten Teils) begründet. Aber Robert Sellier und Vanessa Waldhart machen das mit einer Leichtigkeit, die fabelhaft zur Musik passt. Und Michael Zehe ist der Vermittler und Ratgeber im Netz (früher war das der Bravo-Briefkasten), der als ziemlich verschlampter Nerd sein eigenes voyeuristisches Vergnügen beim Chat-Verkehr der Jugendlichen hat. Handgreiflich wird hier nur jeder bei sich selbst.
Das genau Gegenteil dann nach der Pause. In Florenz oder irgendwo, wo Beziehungen auch Machtspiele sind, bei denen es um Status geht, wo Verletzungen in Frust umschlagen und plötzlich die Lust an der Erniedrigung des anderen durchschlägt.
Die Bühne ist diesmal ein Schlafzimmer. Ziemlich konkret, aber nicht real. Denn an allen Möbel- und Kleidungsstücken hängt ein Preisschild. Was wie eine Gaudi nach dem Motto „wir treiben es nachts im Kaufhaus“ anfängt, schlägt schnell um in einen Psychokrimi, der es in sich hat. Im Graben dreht Sprenger das Orchester jetzt rauschhaft spätromanisch auf und steigert die Musik bis ins Ekstatische.
Bianca (Anke Bernd mit psychologischer Präzision und sinnlicher Ausstrahlung) und Guido Bardi (die vielversprechende Powertenor-Neuerwerbung des Hauses: Matthias Koziorowski) haben sich verabredet, stürmen aufeinander zu und landen schnell unter der Bettdecke. Sie, eine frustrierte Ehefrau auf Abwegen. Er, als smarter Sohn der Herzogs ein Frauenheld, der sich vor allem um das Wohl der Untertaninnen kümmert. Als Ehemann Simone abgekämpft mit seinem Vertreterkoffer dazu kommt, gibt es den Klassiker vom Liebhaber, der erstmal im Schrank verschwindet. Wenn Simone ihn dann begrüßt und unterstellt, dass das wohl nur ein lieber Verwandter sein kann, und Bianca das verneint, beginnt ein faszinierender Kampf. Simone zieht nämlich nicht den metaphorischen Degen oder schmeißt den Ertappten raus und verprügelt seine ungetreue Ehefrau. Er spielt vielmehr das Spiel vom Gast weiter, verkauft dem eine ganze Menge seiner Produkte, immer mit der latenten unausgesprochenen Drohung, Skandal zu machen, benimmt sich zuallererst als die Krämerseele, die seine Frau zu verabscheuen gelernt hat. Selbst als die Männer doppelbödig über ihre stahlgehärteten oder verrosteten Waffen reden, und ihre Männlichkeit meinen, bleibt es noch im Als-ob-Modus.
Der Ehemann hat in diesem Spiel von Anfang an die Oberhand, inszeniert es, treibt die beiden in die Ecke. Gerd Vogel hat das stimmliche und darstellerische Format für dieses Spiel und setzt es voll ein. Wenn er dann den Liebhaber umgebracht hat, nimmt Bianca das als einen Liebesbeweis, der sie geradezu aus der Fassung bringt. „Ich wusste nicht, dass du so stark bist“, sagt sie. „Ich wusste nicht, dass du so schön bist“, sagt er. Am Ende tackert Bianca ihrem Mann ein Preisschild an den Hals; billigt ihm also einen Preis oder Wert zu. Der Schaden für diese Erkenntnis ist allerdings (zu) hoch. Und liegt als Bühnenleiche daneben. Vielleicht hätten die beiden ja eine Chance gehabt, wenn sie so offen gechattet hätten, wie die beiden jungen Leute im ersten Stück?