Foto: "Lichter ziehen vorüber" am Theater Aachen. Malcolm Kemp, Karsten Meyer © Ludwig Koerfer
Text:Andreas Falentin, am 29. April 2013
Am Anfang marthalert es kräftig. Gestalten in billigen Outfits, umgeben von einer Aura des Versagens, schleichen über die Bühne. Eine alte Frau in Heilsarmeeuniform kommt zweimal aus der Damentoilette, mit einer Zigarette im Mund und in eine Qualmsäule gehüllt. Eine Frau in einer anderen Uniform setzt sich vor eine Music-Box und übt verzweifelt ein Lied auf der Gitarre.
„Lichter ziehen vorüber“ ist inspiriert von und verwendet Motive aus den Filmen von Aki Kaurismäki. Die schreckliche Verlorenheit seiner Figuren, die durch gesellschaftliche Veränderungen scheinbar komplett vom Leben abgekoppelt werden, und die Intensität seines lakonischen, ungeheuer wortkargen Humors erreicht die Aufführung in keinem Moment. Natürlich nicht. Man verfügt weder über die filmische Technik der Großaufnahme, noch über Kaurismäkis grausam authentische In- und Exterieurs aus Le Havre, London oder immer wieder Helsinki. Wir sind in Aachen. Am Theater.
Tatsächlich hat die Regisseurin Christina Rast seinerzeit bei Christoph Marthaler in Zürich gelernt. Aber im Gegensatz zu dem Schweizer Theatermagier arbeitet sie im leeren Raum. Den hat ihre Bühnenbildnerin und Schwester Franziska mit kleinen Gimmicks aufbereitet, mit Ritzen, Löchern und Dingen, die aus der Wand geklappt werden. Ein gutes Viertel der Zuschauer sitzt auf der Hinterbühne und macht den Guckkasten zu einem quadratischen Brett. Hier sucht Christina Rast Lebens- und Arbeitswirklichkeit, klug, intensiv und distanziert. Dennoch tönt manchmal das Schweigen aufdringlich laut, äußert sich der Ausdruckswille unkünstlerisch direkt und doch ziellos.
Wenn aber Malcolm Kemp, der Leiter der Aachener Bühnenmusik, mit der nur rauschenden Jukebox auf der Gitarre ein Duett spielt, wenn dazu Sanja Radisic, Aachens Carmen und Brangäne, mit Plastikdiadem und Flügelchen auf die Bühne kommt, sich zwischen die ruhenden Werktätigen aufs Bett pflanzt und hingebungsvoll irgendwas Mexikanisches ins Mikro schmiert, dann entsteht jene Mischung aus Kontemplation, Traurigkeit, Rührung und Spaß, für die Kaurismäkis Filme bekannt sind. Wenn dann, unter tätiger Mithilfe dreier, sich mit großer Selbstverständlichkeit ins Ensemble einfügender älterer Komparsen, endlich einige kleine Handlungsknoten geknüpft sind, geht in der Bühnenmitte eine Wand runter. Der Zuschauer hört weiter alles, sieht aber nur jeweils „seine“ Hälfte. Zehn Minuten höchstes Tempo – nur Slapstick, kein Klamauk – stimmen ein auf den nachdenklichen Schluss. Sanja Radisic kommt nach vielen schrillen Outfits im schlichten weißen Rollkragenpullover zu den „Two Franks“, Malcolm Kemp und Karsten Meyer, die dem Abend live einen wunderbaren Soundtrack geschenkt haben, entschuldigt sich für ihr überlanges Ausbleiben und verabschiedet sich zwei Minuten später zum Zigarettenholen. Aber sie bleibt dann doch noch und singt kurz und zärtlich „Somewhere over the Rainbow“. Dazu fährt allerdings nicht, wie in Kaurismäkis „Ariel“, ein großes weißes Schiff aus dem Hafen und bringt die Verlorenen in ein besseres Leben. Es geht nur sanft und langsam das Licht aus. Schließlich sind wir in Aachen. Am Theater.