Foto: Völlig ohne romantische Wald-Assoziationen: die "Freischütz"-Überschreibung an der Deutschen Oper Berlin, hier Andrew Dickinson (Max). © Marcus Lieberenz
Text:Matthias Nöther, am 15. September 2019
„Überschreibungen“ nennt die Deutsche Oper Berlin ihre Off-Theaterreihe, die in ihrer ehemaligen Tischlerei stattfindet und in der vor allem freie szenisch-musikalische Fantasien über große Werke des Opernrepertoires stattfinden. In „Wolfsschlucht“ ist es dem mittlerweile sehr erfolgreichen Nachwuchsregisseur Paul-Georg Dittrich gegönnt, ohne große Rücksichten auf den tatsächlichen narrativ-musikalischen Ablauf von Carl Maria von Webers „Freischütz“ moderne Assoziationen zu dem Stück in Szene zu setzen. Gemeinsam mit dem Komponisten Malte Giesen entwirft Dittrich vor einem mal stehenden, mal wandernden Publikum in schwarzem Raum ein Szenario, das allein die räumliche Orientierung der Zuschauer mit jedem neu aus dem Dunkel aufpoppenden Schauplatz zu einer Herausforderung macht.
Giesen und Dittrich geben mit ihrer assoziationsreichen Szenerie Rätsel auf, die man teils kaum verstehen kann, die aber zumindest zum Teil einer Entschlüsselung wert wären. Der Komponist setzt nicht selten auf Mittel finsterer Überwältigung, wie am Anfang, wo Giesen die Gruselchöre der Schlüsselszene des „Freischütz“ mit Instrumentalspiel durchsetzt, das wie ein Autobahngeräusch klingt. Dabei sind unter der musikalischen Leitung von Tilman Wildt lediglich zwei Hornisten, ein Schlagzeuger sowie ein Mann am Synthesizer anwesend. Lärm gibt es trotzdem nicht zu knapp.
Paul-Georg Dittrich geht es, auf diese Fährte wird man zunächst im Programmzettel verwiesen, um den Druck in der Leistungsgesellschaft, deren früher Protagonist ja der beim Schießen erfolglose Jägerbursche Max zweifellos ist. Der Regisseur reduziert seine eigene szenische Studie über den „Freischütz“ auf die Dreiecksbeziehung zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ Jägersburschen Max und Kaspar und Agathe (Sopranistin Susanna Fairbairn), der von beiden begehrten Tochter des Försters. Bariton Florian Spiess erscheint als stattlicher Hüne und blonder Bösewicht in der Rolle des Kaspar gleichberechtigt, Dittrich hebt die bei Weber nur nebenbei erwähnte Biographie Kaspars als verrohter Heimkehrer aus dem Dreißigjährigen Krieg hervor. Kaspar möchte in seiner soldatischen Simplizität vermeintlich ewige, aber verlorengegangene Werte wie Heimat und Brauchtum wieder einsetzen, er rezitiert konservative Wahl- und Regierungsprogramme über die Rückführung von Flüchtlingen und deutsche Leitkultur.
Fast erlebt man solche im Alltag eher als vernagelt daherkommende Proklamationen in der „Wolfsschlucht“-Vorstellung positiv, denn sie schlagen in die Inszenierung absichtlich einen Pflock der Orientierung für das Publikum ein – Orientierung, die Kaspars gestresster Kollege Max zweifellos ebenfalls nicht hat. Tenor Andrew Dickinson stellt die Hauptfigur als ständig Getriebenen vor, der von Versagensängsten und sexuellen Wünschen obsessiv besetzt ist. Die Barbiepuppen in Originalverpackung, die lebensgefährlich vom Schnürboden regnen und in denen Max badet, lassen auch das Hingezogensein von Max zu Agathe als sprichwörtliche Liebe in Zeiten des Kapitalismus erstarren.
Die Videoprojektionen von Vincent Stefan schaffen es, nicht allzusehr in den modischen Klischees dieser beliebten szenischen Technik stehenzubleiben. In ihnen ist unter anderem ein maskierter Mann im spießig aufgeräumten Wohnzimmer eines Försterhauses zu sehen, welches er nach und nach mit Dreck verwüstet – eine Erinnerung daran, dass das saubere Verwalten des Waldes ein Projekt der Aufklärung ist, während die Jagd als archaischer Ritus zur Bewältigung von Angst und Gewaltfantasien immer noch irgendwie präsent ist und in Zeiten von beruflichem Stress und Entfremdung in sterilen, computerbesetzten Großraumbüros hervorbricht. Paul-Georg Dittrichs Grundgedanke ist das Chaos der Psyche, das im „Freischütz“ in den deutschen Wald projiziert wird, doch weiterhin ein Chaos in uns selbst ist. Wenn man um dieses szenische „Problem“ des „Freischütz“ weiß wie Dittrich und Giesen, ist es durchaus möglich, ein atmosphärisch reiches – wenn auch assoziativ überladenes – Bildertheater völlig ohne romantische Wald-Assoziationen zu schaffen.