Bruno Cathomas und Lola Klammroth

Castorfs Kosmos

Nach Bulgakow, Molière: Molière

Theater:Schauspiel Köln, Premiere:21.01.2022 (UA)

Vor sieben Jahren inszenierte Frank Castorf kurz vor dem Ende seiner 25-jährigen Intendanz an der Berliner Volksbühne  schon einmal einen Molière-Abend. Damals war die Premiere wohl ein rauschender Erfolg im intensiv inszenierten Abschied des Berliner Theatersonnenkönigs; inzwischen ist Castorf – wie der junge Impresario Molière – ein Theaterwanderarbeiter geworden; zwischen Wien (zwei Inszenierungen am Wiener Burgtheater im letzten Jahr, darunter eine grandiose Jelinek-Antiken-Variation), Dresden (im April) und St. Pölten (nächste Woche) hat er nun zum dritten Mal in den letzten Jahren am Schauspiel Köln Station gemacht. „Molière“ mit dem kryptischen Untertitel „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ bietet die gewohnten fünfeinhalb Stunden: mit souveränen Musikeinspielungen (William Minke) und Begleitung zwischen Barock und Zwölfton am Flügel im Bühnenhintergrund (Marlies Debacker), mit historisierenden, bunten und enthüllenden Kleidern (Adriana Braga Peretzki), relativ sparsam eingesetztem Live-Video (Andreas Deinert); die Bühne von Aleksandar Denic nutzt wieder die gesamte Breite des großen Depots, im Hintergrund prangen vier Gazetten-lesende Bourgeois, davor rollen eine Kulissenwanderbühne, ein Arc (sprich: Arsch) de Triomphe wie ein Männerhosenhinterteil mit Ohren und der gelbe Kleintransporter aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, mit dem Bruno Cathomas als Prinzipal der Truppe auf die Bühne brettert.

Der erfahrene Protagonist ist als Molière die zentrale Figur zu Beginn und am Ende. In der ersten längeren Szene verzweifelt der brüllende Regisseur im Stuhlkreis am insgesamt neunköpfigen Ensemble; es gibt keine Idee für das königliche Auftragswerk und die Flucht in die Provinz ist der Ausweg. In dieser Szene zeichnet sich bereits ab, dass Jeanne Balibar, als Castorfs Vertraute und Gast im Ensemble, das Zentrum des Abends wird. Hier wirken die jüngeren Kölner Kollegen noch gehemmt, entwickeln noch nicht die spätere Spielfreude.

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Molière – Bulgakow – Castorf

Die Szene ist an Molières „Stegreifspiel von Versailles“ angelehnt, es folgen Szenenbruchstücke aus „Der Bürger als Edelmann“ und „Die Gelehrten Frauen“. Doch ganz am Anfang – und gegen Ende wieder – stehen Sätze aus Michail Bulgakows „Das Leben des Herrn de Molière“; der Roman ist im Grund eine Biographie, die ihren Helden in einen historischen und globalen Zusammenhang stellt. Damit ist er die ideale Vorlage für Castorfs Dramaturgie des assoziativen Zeiten und Orte überspringenden Verbindens, das im Idealfall auch funktioniert, wenn das Publikum nicht alle Verknüpfungen versteht. Disparate Szenen folgen aufeinander und stehen doch in innerem, kontrastreichem und verbindendem Zusammenhang. Die Textfassung bleibt im Detail wieder das Geheimnis des Regisseurs, da können die Figuren im Spiel (wie auch die Kritiker in Köln) noch so sehr das „Textbuch“ einfordern.

Der Säugling Molière, so Bulgakows dialogisierter Text, wird später auch in Russland und im Sowjetstaat eine Theaterrolle spielen und selbst auf Japanisch erklingen. Die Freiheit der Künste, das Theater und die politische Macht, das Verhältnis der Künste untereinander, der dumpf aufstrebende Bürger wie eine beschränkt philosophierende Adlige sind Motive der folgenden Stunden. Kei Muramoto wird, teils in seiner Muttersprache, über die bewusste Selbstbeschränkung beim Butoh-Tanz berichten, während erschreckend-ästhetische Filmbilder das von Atombomben verwüsteten Japan und nüchterne amerikanische Skizzen die Bombentechnik zeigen. In einer auch filmisch besonders beindruckende Szene – nach einem orgiastischen Streit der Künste in großem Waschtrog mit drei Männern – spricht Jeanne Balibar  gemeinsam mit Justus Maier den Brief des verzweifelten Michail Bulgakow an den Diktator Stalin, um dann auf das von der Sowjetmacht ermordete Theatergenie Meyerhold überzugehen.

 

Die Hauptdarstellerin

Die inzwischen mühelos und doch verfremdend Deutsch sprechende französische Darstellerin spielt unter anderem Armande Bejart, die Muse Molières, sowie zahlreiche Rollen aus seinem Figurenkosmos; im Grunde ist Balibar mit ihrer phantastischen Verwandlungskunst, ihrer Strahlkraft und der Durchlässigkeit ihrer Bühnenexistenz für Menschen, Stimmungen und Töne die Hauptdarstellerin. Ihr Spiel fesselt mit immer neuen Nuancen, Haltungen, Zwischentönen – und bleibt dabei immer auch Werkzeug des Regisseurs.

 

Bilanzen

Komisch ist der „Molière“ selten, das Thema des wandernden Künstlers als Machtmensch und Ohnmächtiger ist in dieser Form nicht unbedingt fesselnd. Unverkennbar spiegelt sich der Bühnenherrscher Castorf in dem Abend selbst. Sein baldiger Abschied von der Bühne ist nicht zu erwarten – und nicht zu wünschen. Doch im Rückblick auf das Leben Molières geht es natürlich auch um das Motiv von Ende und Sterben. Am Schluss holt Bruno Cathomas eine Sauerstoffflasche aus einem Gefährt und verfällt in einen herrlich grausigen Hustenanfall. In einer ballettgleichen Szene wandelt er zwischen den beiden Frauen, Jeanne Balibar und Lola Klammroth, und den immer neue Perspektiven zeigenden Kameraleuten (Andreas Deinert und Severein Renke) und den Tonanglern (Wolfgang Kick und Max Kapitein) der letzten Abfahrt von der Bühne entgegen. Herbstblätter segeln von der Bühne und ein jüngerer Theatermacher (Marek Harloff) versucht, die Blätter aufzufegen, – wäre da nicht ein chinesischer Drache, der den Haufen wieder durcheinanderwirbelte; Castorf und das Ende ist eben ein endloses Thema…

Der Premierenerfolg in Köln, wenige Tage nach Molières 400. Geburtstag, war überschaubar, viele Zuschauer hatten das Depot in der Pause verlassen. Zu sehen ist souveräne Bühnenbeherrschung und kluge Textvermischung, ein Ensemble, das immer besser ins Spiel kommt, eine überragende Protagonistin – eine Feier der Kunst, die keinen Blick nach vorne anbietet. Und damit ein Abend, der eher Fragen offen lässt als beantwortet. Das ist in diesen kunstfeindlichen Zeiten schon sehr viel – aber vielleicht auch etwas wenig.