Foto: Maribel Dente sitzt allein auf der spärlich beleuchteten Bühne. © Claudia Heysel
Text:Roland H. Dippel, am 30. November 2024
Die „Anhaltisches Theater Dessau“-Uraufführung des Stücks „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ von Regisseurin und Autorin Carolin Millner verwebt Einzelbiografie mit geschichtlichem Zeitgeist: ein leiser Abend mit lautem Nachhall.
Nach der Schauspielerin Marianne Hoppe und den Rothschilds nahm sich Carolin Millner die Dessauer Handelsfamilie Cohn vor. Millner holte in Text und Spielleitung aus zu einem dialektischen Parcours mit Mitteln des dokumentarischen Theaters, erinnerter Geschichte aus (spärlichem) Archivmaterial und erkenntnisreichen Themenfässern: Geschlechterpositionen, Hierarchien in einer prosperierenden Stadt des 19. Jahrhunderts, Positionsbestimmungen, Fremdsein der jüdischen Außenseiter – und stiller Liebe. Im Kern der Uraufführung ihres Stücks „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ geht es um Moritz von Cohn, der von seiner Ehefrau für jemand anderen verlassen wurde. So wandelt sich der jüdische Bankhaus-Leiter, welcher dem vereinigten Herzogtum Anhalt beim Zusammenschluss mit einem Riesendarlehen aus der Schuldenpatsche half, zum alleinerziehenden Vater von Julie.
Millners Ausufern in der Inszenierung strömt trotz inhaltlicher Fülle bemerkenswert gefasst. Also keine pathetische Phrasendrescherei mit Betroffenheitsgarnitur und keine performativ gespreizte Besserwisserei. Dafür ein ästhetisches Modellieren mit Ensemblegeist. Der einzige Einwand zum Premierenabend: Die dem Darstellenden-Quartett aufgedrückten Textmengen waren so gewaltig, dass es häufiger als gewöhnlich zu immer schnell aufgefangenen Verhaspelungen kam. Offenbar war nicht so lange geprobt worden, bis die affektive Basis durch geschliffene Sicherheit überlagert werden konnte. Das spricht eher für diese szenische Form als gegen sie.
Verständliche Bildhaftigkeit
Anja Bothe, Maribel Dente, Mona Georgia Müller und Edgar Sproß sind das „Gruppenbild mit Herr“. Sie schlüpfen alle vier in verschiedene Positionen, Personen und Perforationen: Die großbürgerliche Oberfläche wird durch Worte und Themeneinheiten gründlichst ausgehöhlt und abgeschabt. Vater, Tochter, Angehörige leiden unter permanenten Fremdheitsgefühlen und Ablehnung trotz großer sozialer Verdienste mit hoher Anpassungskompetenz. Marylin Habigs Bühne und Kostüme sind Muster für ökonomische Bescheidenheit und verständliche Bildhaftigkeit. Nur ein paar Mauerquader stehen herum. Sie verweisen auf Bauvorhaben, aber auch Verfall, Abriss und Zerstörung. Genau gearbeitet: Der Putz wirkt wie aus mehreren Schichten und damit wie Überlagerungen aus Dekaden. Die Frauen tragen Biedermeierlocken und Puffärmel, der Vater Gürtelschärpe. Alles in Apricot- und Cognac-Farben. Die Figuren pflegen schlichte Noblesse und Herzlichkeit ohne Attitüden von Reichtum, welche die Cohns als Investitoren in den mitteldeutschen Eisenbahnbau sich hätten leisten können.
Historische Präzisionsgarantie ist in Millners Textfülle „nach biographischen Motiven von Julie von Cohn-Oppenheim“ weniger wichtig als der Druck im großbürgerlichen Frauenleben des 19. Jahrhunderts. Der Vater sei auch nicht frei von Herkunftszwängen heißt es, als Moritz sich nicht mit einer Nicht-Jüdin verbinden möchte. Julie erhält Benimmunterricht für höhere Töchter und kommt nach der Etikette des Geldadels unter den Verheiratungshammer. Nur konzeptionell artikulierte Millner ihr Erstaunen und Unverständnis, dass Julie gegen diese Behandlung nicht auf die Barrikaden ging. Auf dem Spielpodium vollziehen sich Gesinnungskämpfe mit derart differenzierendem Taktgefühl, dass das ausverkaufte Theater den Atem anhält. „Was bleibt“ ist ein Sensibilitätsrekord nicht nur des Ensembles, sondern auch des Publikums.
Keine Ferien vom Fremdsein
Momente für den regionalen Wohlfühlpatriotismus gibt es auch – mit Ausbremsung durch brutale Absturzfakten. Natürlich kommen die zu den ersten Bayreuther Festspielen freigestellten Anhaltischen Hofkapellmusiker in den Dialog und mit ihnen zwangsläufig Richard Wagners Antisemitismus. Also ist auch die Kunst keine Nische für Ferien vom jüdischen Fremdsein in Deutschland, wie sich Julie das erträumte. Trotzdem bekommt sie ihren Salon, der heute ebenso zerstört und abgetragen ist wie das Dessauer Palais Oppenheim und die Alte Synagoge.
Musikdesigner Jan Preißler erhält wenige, aber wichtige Momente. Einen fast frivolen Wagner-Beat schlägt er an, aber die beiden Klezmer-Reminiszenzen wirken noch besser. Im Jahr 1903 haucht Julie ihre schöne Seele aus. Das wirkt nicht sentimental, weil Millner weniger auf’s versoßt Gefühlige als Erkenntnisgewinn durch Reibungswärme abzielt. Am Schluss sitzen die vier Darstellenden auf einer Mauer und skandieren, flüstern, hauchen abwechselnd Namen: Von den vielen zur Dessauer Pogromnacht 1938 gelisteten Personen lebten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gerade noch elf Frauen und ein Mann. Wie die Dessauer Zuckerraffinerie das im Nationalsozialismus als Tötungsmittel eingesetzte Zyklon B entwickelte, kommt bereits am Anfang zur Sprache. Insgesamt geraten die pausenlosen 90 Minuten auch deshalb mit suggestiver Stärke, weil Millner nicht zu breit wurde, aber mit ihrer künstlerisch leisen Form und diesem sensiblen Ensemble enorm penetrant sein kann.