Mit Lust an der Operette: Martin Bruchmann, Moritz Kallenberg, Fiorella Hincapié, Matthias Klink und Nathalie Karl

Capri-Eis und Weltfluchtphantasien

Paul Abraham: Die Blume von Hawaii

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:03.07.2020Regie:Marco ŠtormanMusikalische Leitung:Rita Kaufmann

Der Prinz Lilo-Taro reist gern. Soll eigentlich die hawaiianische Prinzessin Laya heiraten, aber die ist auch lieber woanders. Die amerikanischen Besatzer machen sich rund um Honolulu breit, und manche wollen ebenfalls heiraten. Kanako Hilo plant einen Aufstand. Am Ende finden sich Paare. Manche sind glücklich. Und singen: „Du traumschöne Perle der Südsee, schenk mir Liebe!“

Wo aber ist am Freitagabend Prinz Lilo-Taro, wo Prinzessin Layla, wo das Paradies am Meeresstrand? Auf Paletten an einem Kai sitzen Besucher mit Kopfhörern im Stuttgarter Hafen, dem links ein Schlepper mit Musikern und zentral ein Floß vorgelagert ist, auf dem fünf Darsteller kauern. Ziemlich bunt sind sie alle angezogen (eine Verneigung vor dem Hawaiihemd), aber nach pazifischem Inselglück sehen sie nicht aus. Und zu erleben ist auch gar nicht Paul Abrahams 1931 in Leipzig uraufgeführte, mit viel Jazz gespickte Erfolgs-Operette „Die Blume von Hawaii“, sondern eine gut eine Stunde andauernde Phantasie mit demselben Titel, gespickt mit den vielen Hits des Stücks.

In dem, was sich hier „szenische Einrichtung“ (verantwortlich: Marco Štorman) nennt, findet keine Vertiefung in ein Genre statt, das – obwohl den besten Werken ein Stachel, also auch ein Stück zeitlose politische Gültigkeit, innewohnt – keine ureigene Domäne der Staatsoper Stuttgart ist. Stattdessen bietet der Abend ein Stück über „Die Blume von Hawaii“ (also eine Art Meta-Operette). Obendrein und vor allem ist er aber eine Revue zum Themenpaket Sehnsucht, Paradies und Heimat, dem trotz aller gesungenen Sinnlichkeit ein Hauch von dramaturgischem Thesenpapier anhaftet. „Das Paradies“, so der (gesprochene) letzte Satz der Aufführung, „mag eine Insel sein – die Hölle ist es auch.“ Apropos: Um Toast Hawaii geht es an diesem Abend ebenfalls, weshalb das Thesenpapier denn auch nicht besonders schwer wiegt.

Beim Einlass haben die Besucher Kopfhörer erhalten. „Es gibt kein Bier auf Hawaii“, tönt aus ihnen heraus, bevor das Stück beginnt. Der Song ist zwar nicht von Paul Abraham, sondern von Paul Kuhn. Aber er passt. Er setzt die ersten Gänsefüßchen, markiert schon vorab, dass es ironisch zugehen wird. Wie auch anders, schließlich sind die Songtexte von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda alles andere als kitschfrei. Und der Neckar ist nicht die Südsee, schon gar nicht dort, wo ein Container neben dem anderen steht. Dort ist er eher Wasser-Industriegebiet und taugt deshalb als Reibungsfläche zum Paradiesischen ebenso wie als Gedanken-Flughafen für Weltfluchtphantasien.

Die Darsteller spielen „Ich packe in meinen Koffer“. So fängt das dann an. Man will weg, aber nur im Kopf und nur im Spiel. Geschichten und Fakten werden eingestreut, zwischendurch gibt es Abrahams Hits in einem sehr schönen, oft witzigen Salonorchester-Arrangement von Sebastian Schwab (musikalische Leitung: Rita Kaufmann). „Lass mich einsam sein, wenn ich leide. Es wird besser sein für uns beide“, singt der Tenor Matthias Klink. Seine Stimme kann wunderbar ölig klingen, die des Baritons Moritz Kallenberg kann das ebenfalls. Zusammen mit der Sopranistin Natalie Karl und der Mezzosopranistin Fiorella Hincapié bilden die beiden ein exzellentes Operettenensemble. Martin Bruchmann fügt sich so organisch ein, dass man den Schauspieler glatt auch für einen Sänger halten könnte.

Man schleckt Capri-Eis (Italien ist ja auch irgendwie exotisch). Erwähnt die Erfindung des Bikinis. Zelebriert Exotismus und Eskapismus, singt „Heut‘ hab ich ein Schwipserl“, serviert Heile-Welt-Musik der Marke „rechts Hawaii, links Hawaii, rings Hawaii“ auf einem glitzernden Silbertablett, winkt einem Flugzeug zu, das die Tontechnik über den Neckar fliegen lässt, und bleibt, als es weg ist, traurig zurück mit einem Gefühl, das jenem von Udo Jürgens‘ Hit „Ich war noch niemals in New York“ ähneln mag. Man sehnt sich halt irgendwie, damit man das Alltagsgrau erträgt, hängt sich am Ende aber dann doch lieber ein Südsee-Poster an die Blümchentapete als ein Flugticket ans Pinnboard.

Spätestens am Ende der Vorstellung, als die große Spielinsel zu vier kleinen wird, spürt man, dass diese „schnell und schmutzig“ umgesetzte Produktion auch mit den Ängsten, den Sehnsüchten und Einsamkeiten der vergangenen Monate spielt. Der Song vom biegsamen, mit Holzspänen gefüllten „Diwanpüppchen“ als Ersatz-Gegenüber bekommt vor diesem Hintergrund einen bitteren Nachgeschmack. Und dennoch: Nur von Hula-Hula geht der Durst nicht weg. Die Zeile ist nicht von Paul Abraham, sondern aus Paul Kuhns Hawaii-Schlager. Stimmt aber trotzdem. Der Abend macht Laune, aber die Sehnsucht nach großer Kunst im großen Haus ist ungestillt.