Foto: Szene mit Birgit Minichmayr und Branko Samarovski. © Matthias Horn
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 18. Februar 2024
Frank Castorf inszeniert 35 Jahre nach der Uraufführung Thomas Bernhards „Heldenplatz“ am Wiener Burgtheater und entschärft den hochbrisanten Theatertext, weil er sich in einer Überfülle von Fremdtexten verheddert.
„Sieg Heil!“, dröhnt es aus den Lautsprechern, während das sechsköpfige Ensemble am Ende einer mehr als fünfstündigen Inszenierung stumm von der Rampe ins Publikum blickt. „Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!“ erschallt es erneut, und ein Schaudern durchzieht den Zuschauerraum des Burgtheaters, in dessen unmittelbarer Nähe, auf dem Wiener Heldenplatz, am 15. März 1938 die Massen einst enthusiastisch Adolf Hitler zugejubelt hatten.
50 Jahre später, am 4. November 1988, hatte im kritischen Gedenken an den „Anschluss“ Österreichs an das Großdeutsche Reich der damalige Burgtheaterdirektor Claus Peymann Thomas Bernhards „Heldenplatz“ im Haus am Ring zur Uraufführung gebracht, was Österreich einen großen Theaterskandal bescherte. Bereits im Vorfeld, aufgehetzt durch die österreichische Boulevardpresse und begleitet von Morddrohungen und Protesten, wurde ein Kulturkampf zwischen rechtsnationalen und demokratischen Kräften entfacht. So erschreckend treffsicher war Bernhard in seinem letzten Stück das Psychogramm der österreichischen Gesellschaft und ihres latenten Antisemitismus gelungen, dass sie just jene menschenverachtende Fratze zur Schau stellte, die der Dichter kunstvoll entlarvte.
Wiederkehrender Nationalsozialismus
Dass sich Frank Castorf gerade jetzt Bernhards ebenso artifizieller wie sinnlicher Polemik-Suada annimmt, liegt wohl an unserer für historische Entwicklungen immer bewusstloser werdenden Zeit, in der Rechtsextreme zunehmend politischen Einfluss gewinnen und der Antisemitismus weltweit alarmierend ansteigt. Handelt „Heldenplatz“ doch von den Hinterbliebenen des von den Nationalsozialisten vertriebenen Mathematikprofessors Josef Schuster, der sich, vom Wiener Bürgermeister aus dem Oxforder Exil in seine Heimatstadt zurückgeholt, wegen des wiederaufkeimenden Nationalsozialismus aus einem Fenster seiner Wohnung am Heldenplatz stürzt. Von dort hört seine Frau Hedwig innerlich immer noch den unheilvollen Jubel, ein nicht enden wollendes „Sieg-Heil“-Gebrüll, das auf Aleksandar Denićs Drehbühne vor dem Hintergrund eines meterhohen Fotos erschallt – mutmaßlich vom Reichsparteitag 1935, bei dem die „Nürnberger Rassengesetze“ verkündet wurden.
Brisante Bernhard‘sche Übertreibungskunst
„Ich habe mein ganzes Leben lang protestiert, und es hat nichts genützt. Ich protestiere nicht mehr!“, ruft die trippelnde Mumie mit schwarzem Aktenkoffer. Die Arme stramm am Körper fixiert, hüpft sie mit einem gekonnten Sprung auf einen der braunen Plastikstühle und rudert waagrecht mit den Beinen. „In Österreich ist alles immer am schlimmsten gewesen, dem Stumpfsinn sind immer alle nachgelaufen“, wienert Birgit Minichmayr nasal. „Österreich selbst ist nichts als eine Bühne“, klagt ihr Professor Robert am Tag des Begräbnisses seines Bruders: „Sechseinhalb Millionen Debile, die nach einem Regisseur schreien. Der Regisseur wird kommen und sie endgültig in den Abgrund hinunterstoßen“, schreit Minichmayr immer verzweifelter und humpelt schließlich die Subway-Treppe der Station Borough Hall in Brooklyn hinab. „Ich verstehe die Zeichen der Zeit nicht mehr. Das Nichts ist das Ziel! Aus! Aus! Aus!“, ruft sie resigniert, gefilmt von einer Live-Kamera.
Es ist eine der wenigen Szenen an diesem Abend, in denen einem Bernhards schwarzgalliger Humor im Halse stecken bleibt. Als hätte sich die Welt mittlerweile in die Bernhard’sche Übertreibungskunst selbst hineingesteigert und sich seiner Dichtung auf das skandalöseste anverwandelt, um den Autor selbst zu übertrumpfen, erscheinen Bernhards Schimpftiraden brisanter denn je: 2024 tritt in Österreich der selbsternannte „Volkskanzler“ Herbert Kickl zur Nationalratswahl an, und die Masse jubelt grölend wie eh und je.
Bilder, Metaphern und Zeichen
Dass Frank Castorf, der 2021 am Burgtheater bereits Peter Handke und am Akademietheater Elfriede Jelinek inszenierte, Bernhards „Heldenplatz“ in das New York der 1930er Jahre versetzt und vor dem Hintergrund der Depression den Kapitalismus als Wurzel des Faschismus verdeutlicht, ist schlüssig, jedoch vermag Castorf die These szenisch nicht einzulösen. Dabei böte Denićs metaphorisch aufgeladene Drehbühne den passenden Spielraum. Zwischen dem übergroßen Konterfei Al Capones und Marilyn Monroes meterhoch gespreizten Beinen steht eine Art grauer Bunker mit Coca-Cola-Schild. In seinem Inneren sitzt das Ensemble unterm Kronleuchter beim Kartoffelschälen, die Frauen in glitzernden Varietékostümen, die Männer im schwarzen Anzug mit Melone, an der Wand Philippe de Champaignes Barockbild „Das letzte Abendmahl“, an der Decke Duschköpfe, aus denen der Nebel strömt wie einst KZ-Gas und die Familie schließlich ins Freie jagt.
Franz Pätzold, Birgit Minichmayr. Foto: Matthias Horn
Castorf schickt Bernhards Gesellschaft auf eine Reise in das Unbewusste kollektiver Erinnerung, indem er Marcel Heuperman, Inge Maux, Franz Pätzold, Branko Samarovski, Marie-Luise Stockinger und die mit ihrem präzisen Variationsreichtum und ihrer körperlichen Ausdruckskraft alle überstrahlende Birgit Minichmayr in einen U-Bahn-Wagon steckt, vor dessen Fenstern eine winterliche (Video-)Landschaft vorbeizieht.
Entleihung aus anderen Texten
Doch anstatt der Tragkraft von Bernhards Text, seiner musikalischen Sprache und der abstrakten Formgebung zu vertrauen, dehnt und zerfranst Castorf „Heldenplatz“ mit überlangen Textpassagen aus verschiedenen Romanen Thomas Wolfes und aus dem Tagebuch John F. Kennedys von seiner Europa-Reise 1937, worin er die Faszination, die Hitler ausgelöst hatte, beschrieb. Franz Pätzold vermittelt das in einem beeindruckenden Monolog.
Dennoch vermag die Kombination aus oft überlangen, unzusammenhängenden Prosa-Passagen und Bernhards Drama nicht zu zünden, was auch an der inhomogenen Qualität des Ensembles liegt, das der Hyperexpressivität von Bernhards Text trotz fliegender Rollen- und zahlreicher Kostümwechsel (Adriana Braga Peretzki) nur in wenigen Momenten überzeugend Realität verleiht. „Umbringen sollt ma Ihnen!“, steht zwar in riesigen altdeutschen Lettern über der Szenerie, dennoch erscheint Castorfs Inszenierung wie ein Ausweichmanöver vor Bernhards hellsichtiger Kunst. Skandalös war sein „Heldenplatz“ nie, wohl aber sind es die Verhältnisse.