Foto: Zoran Todorovich als Éléazar © Sandra Then/Staatsoper Hannover
Text:Andreas Falentin, am 14. September 2019
Keine Frage: Diese „Juive“ zum Auftakt der Intendanz Laura Berman in Hannover wird ein rauschender Erfolg. In jedem Moment der Aufführung spürt man den Teamspirit, ahnt man, wie hier alle Beteiligten aus sich heraus geholt haben, was irgend möglich ist. Und wenn das geschieht, dann lebt sie strahlend, die launische alte Dame Oper.
Beginnen wir mit der Musik. Constantin Trinks weiß genau, was er mit diesem Stück will. Hier geht es genauso um Dramatik wie um Transparenz. „La Juive“ ist alles, aber kein Belcanto-Stück. Die Melodie wird hier von Harmonik, Rhythmik und Farbigkeit dominiert. Immer wieder ballt sich alles zu riesigen Ensembles zusammen. Dann gibt es wieder lange, sehr schmal instrumentierte Rezitativstrecken. Nie ist die Instrumentierung wirklich dick, stets liegen die einzelnen Instrumentengruppen wie auf einem Silbertablett vor uns. Trinks hält das über die vollen 3 1/2 Stunden durch, auch weil er im Niedersächsischen Staatsorchester einen großartigen Partner hat, an diesem Abend mit besonders sicherem, fein leuchtenden Blech, Auch der Chor unter Lorenzo del Rio beweist internationales Niveau, verstellt sich dynamisch bruchlos, singt bildschön und da,wo es gefordert wird, auch klanggewaltig, spielt dabei ausdrucksstark, momentweise, etwa am Beginn des letzten Aktes, gar zum Erschrecken.
Lydia Steiers Inszenierung ist vor allem: gewaltig. Unzählbar ist die Anzahl der verwendeten Kostüme und Perücken. Die Regisseurin übergießt das Stück geradezu Zeichen, Versatzstücken und Effekten und schafft es irgendwie, durch dieses Gewimmel zum Kern dieser Oper vorzudringen. Um die so krude wie konzentrierte Handlung vom stets misshandelten, hasserfüllten aber nicht vollständig verhärteten Juden und seiner verhängnisvoll liebenden Tochter, die nicht seine Tochter ist, verständlich zu machen, nutzt Steier einen Kunstgriff. Sie siedelt die fünf Akte in fünf verschiedenen Zeiten an. Das wirkt allerdings auf den ersten Blick wie reine Oberflächenpolitur. Außer etlichenen Base-Caps, einigen Mickymäusen und einem Cadillac-Cabrio hat der erste Akt mit den USA in den 50er-Jahren eigentlich nichts zu tun. Das Barock-Setting des dritten Aktes soll auf die Vorgänge um Joseph Süß Oppenheimer im Baden des 18. Jahrhunderts rekurrieren. Das geschieht aber nur insofern, als dekorativ stilisierte Käfige in der Bühnenluft erscheinen. Der, der die Geschichte kennt, hat so noch weniger davon, als der, der die Geschichte kennt. In den letzten beiden Akten dann wird die Setzung (1492 bzw. 1414, die bei Halevy vorgegebene Handlungszeit) in einer Durchmischung der Zeitebenen aufgelöst.
Bei allen Einwänden im Detail ist allerdings zu konstatieren, dass Steier mit der eigenen Vorgabe so produktiv wie kreativ umgeht. Sie schafft es, nicht nur die Handlung schlüssig zu erzählen, sondern darüber hinaus jeden einzelnen Akt für sich. Das gelingt im zweiten, 1929 in Deutschland angesiedelten Akt am dichtesten. Hier fährt ein enger Innenraum nach vorne, indem Éléazar und sein Umfeld das Pessach-Fest begehen. Und wo er entdeckt, dass seine Tochter Rachel mit Leopold fliehen will, der sich zwar am Ende als Christ zu erkennen gibt, aber eine Hochzeit mit Rachel verweigert, was die Katastrophe in Gang setzt, an deren Ende es nur Tote und Verlierer gibt. Dieser Akt ist in seinem steten, hinreißend ausagierten Wechsel von Ernst und Komik nicht nur das von Lydia Steier immer gewollte große Entertainment, sondern entblößt den Kern von „La Juive“. Immer geht es um Gruppen, die ihren Zusammenhalt über einen gemeinsamen Feind definieren, mit dem sie glauben, nicht human umgehen zu müssen. Zweiter Höhepunkt ist dann – doch! – der dritte Akt, weil die Barockatmosphäre sich als ideal erweist, das dekadente Leben des Herrscherpaars Leopold und Eudoxie zu beschreiben, das einzig die jeweils eigenen Bedürfnissse kennt.
Tatsächlich gelingt es durch die historisierende Vereinzelung der Akte, die Spannung über den ganzen Abend hochzuhalten. Und es gibt sogar eine Art Jojo-Effekt. Am Ende blickt man zurück an den Anfang, in die Neuzeit, und sieht, dass sich nichts verbessert hat. Dass willkürliche Gewalt, nicht nur an Fremden, heute nicht mehr in Form von sanktionierter Rechtsbeugung geschieht, sondern gegen alles Recht und an ihm vorbei. Und trotzdem ohne Konsequenzen bleibt. Von daher wird auch die gewaltexzessive „Parade“ im ersten Akt verständlich, vielleicht sogar notwendig.
Dass wir das erleben und verstehen, hat auch mit den vielen Requisiten, vor allem mit den Kostümen von Alfred Mayerhofer zu tun, die einfach großartige Spielvorlagen sind. Momme Hinrichs, bekannt als die eine „Hälfte“ der Theater-Videomeister „FettFilm“ hat eine graue Wand erdacht, über die alle szenischen Vorgänge gesteuert werden, eine Art bühnenregierende Zeitmaschine. Tribünen werden aus ihr herausgeklappt, Löcher öffnen sich, ein ganzes Haus fährt aus ihr heraus. Weniger faszinierend sind die recht dumpf stilisierten Käfige mit Deckenbeleuchtung im vierten Akt, neben denen die um Leopolds Leben flehende Eudoxie im Hollywood-Mittelalterfummel schlicht falsch wirkt. Oder die nichts erzählenden, gelegentlich verdeutlichenden, meistens rein illustrativen Videos
Ärgerlich sind auch einige Regie-Unachtsamkeiten. Etwa wenn Rachel im zweiten Akt das Haus verlässt und die judenfeindliche Schmiererei an der Haustür nicht wahrnimmt. Oder wenn ein Chorist uns zum Lachen bringt, indem er an Éléazars Haustür im Takt der Musik Wasser lässt. Is that really Entertainment?
Darüberhinaus gibt Steier vielleicht ein wenig zu oft ihrem Hang zur Überdeutlichkeit, zur Überfülle nach. Etwa beim ersten Auftritt des Kardinals Brogni, Èléazars Gegenspieler und, wie sich am Schluss herausstellt, Rachels leiblicher Vater. Er spricht aus der Mauer zum Volk, umgeben per Vdieo von einer Gloriole und aufsteigenden, niedlichen Putten. Wir sollen erkennen, dass hier eine PR-Maschine läuft, dass Brogni nicht nur ein bigotter Possenreißer ist, sondern das sogar weiß und demagogisch einsetzt. Es ist nicht nur unnötig, hier wie an anderen Stellen, jene Plakativität und Penetranz, die Constantin Trinks so grandios hörbar macht, auch auf der Bühne zun illustrieren. Vor allem aber erzählt Shavleg Armasi das alles selbst, mit fokussiertem, musikantischem Bass und durch Steiers großartige Personenführung, die er großartig mit Leben füllt.
Was für alle Solisten gilt. Durch die Personenführung der Regisseurin, Musikalität und Spielfreude gewinnen sie alle Halevys Thriller-Staatsaktion Humansubstanz ab. Ob Mercedes Arcuri mit ihrem flüssigen Parlando, bei der man einfach nicht hört, wie halsbrecherisch diese Koloraturen eigentlich sind, oder bei Matthew Newlin, dessen Prinz Leopold den Charme der Mühelosigkeit versprüht. Hailey Clark ist Rachel, klar im Spiel, edel timbriert im Gesang. Durch ihr Differenzierungsvermögen, ihr stimmliches Farbenspiel und ihre Ausstrahlung wird sie zu einem Kraftzentrum dieser Aufführung.
Das andere heißt Zoran Todorovich. Vor 25 Jahren hat er seine Karriere, die ihn an nahezu alle großen Häuser der welt geführt hat, in Hannover begonnen. Jetzt ist er wieder da und bleibt dem Èléazar nichts schuldig, nicht die Liebe, nicht den Hass, nicht die hohen Töne, nicht die flüssigen warmen Piani, nicht die Kraft, nicht die Ausstrahlung, nicht das Timing des Komödianten. Ein Grund zu reisen. Und ein Segen für diese Produktion, weil wir hier eben keine vom Hass zerfressene Ruine vor uns haben und auch keinen sentimentalisierten Vater, sondern einen immer noch, eine eigene Tragik, fühlenden Menschen, der den Leidensdruck in sich in Schwällen nach außen leiten muss, um überleben zu können.
Auch wegen Zoran Todorovich ist und wird diese „Juive“ trotz ihrer Momente der Überfülle, Penetranz und Sentimentalität: ein rauschender Erfolg. Und zu Recht!