Foto: In Feierlaune: Andreja Schneider (Mustapha Bei), Dominique Lepeudry, Joanna Limanska, Raquel Luis, Eun-Joo Ham, Ntombizodumo Mahlaba, Stephanie Gröschel-Unterbäumer (Mustaphas geschiedene Ehefrauen) © Bettina Stöß
Text:Dieter Stoll, am 20. Januar 2019
Aus dem Orchestergraben wächst ein Palmenwald, die Revuetreppe aus diesem besonderen Souterrain ist auf den zweiten Blick bloß der breite Lieferanteneingang fürs Entertainment-Personal, aber auf der Bühne weiß man sofort Bescheid über die wahren Werte – da wird in der allerersten Szene zur Vorsorge ein halbes Dutzend Champagnerflaschen geköpft. Treibstoff für die verwirrenden Dinge, die da unvermeidlich kommen müssen. Dann marschieren die gemischten Paare auf und durch zum Sturm der Séparées, wo die Moral Erholungsurlaub macht und Frivolität zur theoretischen Grundausstattung gehört. Am Ende wird sowieso alles geordnet und das Finale dementiert schmissig-spießig die Freizügigkeit, die vorher als heimliches Ideal in Umlauf gesetzt wurde. Es könnte also auch „Wiener Operette“ sein, was da in der Nürnberger Erstaufführung (!) von Paul Abrahams „Ball im Savoy“ zu erleben ist.
Das Ausrufezeichen betrifft die wunderliche Tatsache, dass die ehemalige (längst geschleifte) Sparten-„Hochburg“, die das Nürnberger Musiktheater war und die in ihren Spielplänen von Robert Stolz bis Nico Dostal gefühlte Ewigkeiten keine Berührungsängste kannte, die Sonderstellung der Werke als verkappte Berliner Frechheiten verkannte. Bei den Uraufführungen in den 1930er-Jahren war das angejazzte Spektakel zu modern für die Provinz, beim Comeback in der Nachkriegszeit hatten die Arrangeure mit schmalzgebackenem Zeitgeschmack so „nachgebessert“, dass man sich den Geschmacksnerv daran verrenken konnte. Der Mut zum Übermut blieb einzelnen Schauspieler-Projekten vorbehalten, also unvergesslichen Zugriffen wie Alfred Kirchners bis in die Wurzel der Kitsch-Seele greifende „Blume von Hawaii“ in Stuttgart mit der legendären Ortrud Beginnen oder Hansjörg Utzeraths Nürnberger Weltkriegs-Menetekel „Viktoria und ihr Husar“ um 1979. Erst 35 Jahre später holte Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin das Original triumphal zurück und die dafür entstandene Rekonstruktion von Kai Tietje ist die sichere Basis der aktuellen Premiere am zuletzt eher an Broadway-Oldies interessierten Staatstheater Nürnberg.
Die Handlung ist mittelgrober Unfug, aber als Anlass für turbulente Musiknummern herzlich willkommen. Ein turtelndes Ehepaar kommt nach einem Jahr „Flitterwochen“ zurück nach Nizza, wo sich beim Savoy-Ball sogleich die Gelegenheiten für Verwechslungen bündeln. Der Mann würde gern in aller Heimlichkeit wieder „ein bisschen ledig sein“, die Frau bibbert vor Eifersucht, ein früheres Verhältnis wird aufgefrischt und ein türkischer Diplomat mit mobilem Gebetsteppich lässt sechs Ex-Ehefrauen als Referenz-Kollektiv antreten, um die siebte zu erobern. Und weil die betrogene Madeleine ihrem Fremdgänger Aristide öffentlich „Revanche“ schwört, sieht das Ganze für Momente sogar wie eine Emanzipationsfanfare aus. Kleine Hochstapelei zwischendurch.
Regisseur Stefan Huber ist Facharbeiter fürs Leichte. Mit den vorübergehend zur Trend-Größe heranwachsenden Experimenten, in denen die Beschwörung von Zeitgeist aus der Analyse von Amüsement versucht wurde, hat er nichts am Hut. In seinen Inszenierungen wird nirgends an Fassaden gekratzt, aber immer mit ausgefahrenem Temperament gespielt und in der Besetzung gerne die Ordnung der Geschlechter durcheinander gekegelt. Dafür sind seit Jahren die drei „Geschwister Pfister“ treue Partner, also das Kunstfiguren-Triumvirat von Ursli und Toni mit Fräulein Schneider, die über ihre herrlichen Schlager-Revuen hinaus die Operette als Trivialitäten-Treibhäuschen entdeckten. Beim „Ball im Savoy“ wird daraus wieder eine neue Gender-Mischung. Christoph Marti alias „Ursli“ tritt als hüftschwingende Jazzkomponistin Daisy auf, Andreja Schneider alias „Fräulein“ ist der dick ausgepolsterte Türken-Attaché mit dem Hang zur geordneten Vielweiberei und den unendlichen Ü-Tüpfelchen im Dialog, also mit „vielen Nüllen“ am Scheck. Als Paar sind sie unwiderstehlich, auch weil sie die Travestie lässig aus den Ärmeln schütteln. Tobias Bonn alias „Toni“ im Part des seriösen Tenors schmettert die Töne des Marquis wie eine Heesters-Hommage in Dauerschleife. Nur Musical-Star Frederike Haas, auf gleicher Bühne schon „Funny Girl“ und hier die betrogene rachsüchtige Ehefrau, kann mit der subtilen Persiflage einer ausflippenden Diva, die das Modell „Fledermaus“-Rosalinde aufträgt, nicht viel bewirken. Das Besondere am Umgang mit dem Sujet ist ja, wie souverän Parodie im Schutzschirm der Verehrung abgefangen und dennoch ausgekostet wird. Die Regie bewältigt das mit einem süffisanten Achselzucken für die Handlung und lodernder Begeisterung für jede Musiknummer. Wie die garantiert falschen, aber fabelhaft glitzernden Perlen einer Kette aus der Wundertüte sind die Szenen-Miniaturen aufgereiht, angefeuert vom lange unsichtbar bleibenden Orchester unter Volker Hiemeyers inspirierter Leitung. Wie es da im Känguru-Tanz hüpft, in den Liebesschnulzen blubbert und der Ensemble-Aufruhr knapp am Marsch vorbeigelenkt wird, wie da „Türken küssen müssen“ und Tangolitos eckige Figuren stellen – alles zum wertfreien Staunen. Und die absolute Philosophie dieser mit Berliner Luft vollgepumpten Gesellschaft in Nizza könnte am Ende nicht schlüssiger sein: Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh‘n.
Ein Herrenballett springt durch die Szenen, der etwas weniger bewegliche Chor versucht es manchmal auch und am schönsten sind Entdeckungen wie die des Jungschauspielers Cem Lukas Yeginer vom Haus nebenan, der seine Tschechow-Rolle liegen lässt, um erst als mondäne Modeschöpferin und dann gleich als bebrillter Nerd krähend durch den Tumult zu schreiten. Zu diesem Zeitpunkt hat die anfangs holpernde, beim Einfädeln der flach gehaltenen Charaktere mit einer wackeligen Tonfilm-Adaption noch unsicher wirkende Regie bereits gewonnen. „Mein Herz braucht Glück“, schreit aus voller Kehle der Herr Marquis, also Toni Pfister, melodienselig ins Opernhausparkett. Den Schrittmachern sei Dank, Nürnbergs Operette hat Glück gehabt.