Metaphysischer Transit

Nanine Linning: DUSK

Theater:Bühnen Halle, Premiere:29.03.2025Regie:Nanine Linning Einstudierung:Sylva Šafková

Nanine Linnings neues Stück „DUSK“ an den Bühnen Halle verarbeitet in einem dreiteiligen Tanzabend die Polarität von Leben und Tod, aber auch den Zustand dazwischen. Mit Musik von Mahler werden schmerzliche Emotionen frei, als Motiv leitet der Abschied von einem geliebten Menschen und im Hintergrund fungieren Fragen der Metaphysik.

„DUSK“, das englische Wort für Abenddämmerung, ist im Titel des Balletts von Nanine Linning großgeschrieben: Licht, Tanzkörper und Stimmungen sind in dieser Kreation im sinnlichen und atmosphärischen Fluss zwischen den Sphären. Die niederländische Choreografin widmet sich mit diesem 2018 für das Theater Heidelberg entstandenen und jetzt vom Ballett der Bühnen Halle übernommenen Stück einem ganz großen Thema: Dem Übergang des Lebens zum Tod.

Die drei ausgewählten Musikwerke signalisieren Stadien dieses säkularen Transits. Die Musik kommt immer in etwas zu brillanter und flach wirkender Abmischung aus den Boxen. Dazu wechselt der Charakter der Bewegungen: Fast industrielle Motorik zu „Shaker Loops“ von John Adams, energetisch vitale und dabei sehr individuelle Szenen zum Satz „Con sublimata“ aus Arvo Pärts vierter Sinfonie „Los Angeles“ und schließlich schmerzlich intime Szenen zum großen Adagio aus der neunten Sinfonie Gustav Mahlers. Die Metamorphose vom Herdentrieb des vegetativen Lebens in die Vereinzelung bedeutet für Linning in „DUSK“ eine Reise vom Dunkel ins Licht.

Enthebung des Körpers

Das Ballett, welches für diesen kraftvoll ausholenden, später fast transzendenten Bewegungskosmos eine hohe Affinität hat, müsste eigentlich auf die Spitzen gehen. Denn das vormoderne Ausdrucksmittel des romantischen Kunsttanzes steht wie sonst kein anderes für die physische Enthebung der menschlichen Tanzkörper in jenseitige Sphären und Anderswelten. Linning hat in ihrer metaphysischen Entgrenzungsrevue keine bestimmte philosophische oder naturwissenschaftliche Definition von Leben bzw. Tod im Visier. Deshalb ist das Publikum auf seine persönlichen Assoziationen zurückgeworfen.

DUSK Halle

v.l. Giuseppe Lucenti, Jorge Alexey Ruigómez Momene, Donna-Mae Burrows. Foto: Yan Revazov

Vom irdischen Leben hat Linning offenbar keine allzu hohe Meinung. Das gesamte Ensemble steht zu Beginn im diffusen Halbdunkel eng zusammen. Erst in kleinen Schritten und mit motorisch gerissenen Armen, dann gebückt und immer temporeich rast, hetzt, treibt es über die Bühne des Opernhauses. Viele Miniaktionen zeigen irreguläre Bewegtheiten des Kollektivkörpers. Doch trotz der Enge und Nähe sind die Einzelwesen zueinander sehr fern. Die Modedesignerin Irina Shaposhnikova hat an die braunen Trikots langes, borstenartige und stachliges „Fell“ gesetzt, was direkte Nähe und physische Berührungen erschwert.

Drei Teile des Tanzes

Linning denkt ihre Bewegungen immer analog zur Musik. Der für Halle von Sylva Šafková einstudierte Tanz-Dreiteiler spielt auf vor einer mit milchigem Blau getönten Operafolie begrenzten, sonst leeren Bühne. Später trägt das Ensemble weiße Trikots und wirkt deshalb im Raum fließender. In den teils gedehnten Szenen erlebt man eindrucksvolle Bewegungsfolgen. Im Pärt-Teil gehört zu diesen die Konstellation einer Frau mit drei Männern. Diese Gruppe löst und bindet sich mit deutlichen und auch ungewöhnlichen Berührungen. Es entsteht eine Verbindung mit hoher Balance in ständigem Fluss.

Erst zu Mahler aber kommen die Emotionen – schmerzlich, wechselhaft, ambivalent: Ein Mann kehrt sitzend der gestrafften Beziehungsdynamik eines Paars wie unbeteiligt den Rücken zu. Beim Paar wechseln jäh und mit bizarrer Unlogik die Impulse von Anziehung, Verschmelzung, schmerzhafter Distanzierung und Individualitätsanspruch. Der Rest ist gefasstes Alleinsein, die Resignation überwunden und der gefühlte Puls im Raum ideal. Sofort bricht gewaltiger, enthusiastischer Jubel los.

DUSK Halle

v.l. Giuseppe Lucenti, Donna-Mae Burrows, Jorge Alexey Ruigómez Momene. Foto: Yan Revazov

Persönlich, Spirituell, unangreifbar

Linnings choreografischer Bogen wirkt wie eine schrittweise Entdeckung der Langsamkeit. Indem sie diese Arbeit als „sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Abschied von einem geliebten Menschen“ bezeichnet, erhebt sie für ihr dynamisches und spirituelles Konzept den Anspruch der Unangreifbarkeit. Dramaturg Patric Seibert hat seine Darstellung von Todesphänomenen im Programmheft sachlich abgefedert. Das Produktionsteam artikuliert nicht nur die Polarität von Leben und Tod, sondern auch das vitale, aktive, impulsive Dazwischen.

Nebenbei fällt auf, dass Linning in „DUSK“ offenbar nicht an harmonische Paarbeziehungen glauben will. Balance und positive ‚Vibes‘ gibt es nur in Triaden und Quartetten, nicht aber in der mit Schmerzen durchfurchten Zweisamkeit. Auch die Motorik des ersten Teils ist trotz der vom Ensemble brillant realisierten Sportlichkeit eher Manifestation von Entfremdung und Tristesse als positiver Impuls. In diesem Sinn ist „DUSK“ ein weder bejahender noch verneinender Dämmerzustand. Linning gibt in diesem Remake des für sie essentiellen Stücks ein paradigmatisches Beispiel für den säkularen Umgang mit den letzten Fragen. Auf Metaphysik kann, wie „DUSK“ eindrucksvoll bestätigt; der Homo Novus im Zeitalter der digitalen Entgrenzung, der objektivierenden Religionskritik und der kollektiven Glücksmaximierung noch immer nicht verzichten.