Foto: Absolutismus im Verfallsstadium: Patrick Zielke (Jupiter/Pluton), Estelle Kruger (Diane) und Charles Sy (Hippolyte) in „Hippolyte et Aricie“ © Christian Kleiner
Text:Jasmin Goll, am 2. Mai 2021
Es sind die letzten Augenblicke vor dem Spektakel, wenn die Musiker*innen nach und nach den fast hochgefahrenen Orchestergraben betreten, die Darstellenden spielerisch in ihre Rolle hineinfinden und Marie-Belle Sandis als Amour mit viel Esprit den barocken Hofstaat begrüßt, der sich in Logen und Parkett postiert. Dieser inszenierte ‚Einlass‘ führt uns aber bereits in die theatral aufgeladene Lebenswelt in Jean-Philippe Rameaus „Hippolyte et Aricie“ am Nationaltheater Mannheim ein, in der es keine so rechte Trennung zwischen Bühnenrealität und höfischem Leben gibt.
Regisseur Lorenzo Fioroni, der Rameaus erste Oper von 1733 inszeniert, stürzt sich nicht mit psychologischem Zugriff auf die Liebeswirren von Hippolyte, Aricie und Phèdre, sondern zeigt eine Weltordnung im Umbruch. Dabei schöpft er aus dem Spannungsverhältnis zwischen formaler und musikalischer Gestaltung der Oper. Das Gattungsmodell der Tragédie lyrique nach Prägung Jean-Baptiste Lullys, das im höfischen Brutkasten im Frankreich des 17. Jahrhunderts gedieh, diente Rameau als Gerüst. Rameaus Oper folgt somit dem Aufbau aus Prolog und fünf Akten, durchsetzt von Tanzeinlagen und Chören, der seine Zweckbestimmung, den Absolutismus zu verherrlichen, noch nicht abgestreift hat. Zugleich aber sprengte Rameau dieses Modell nahezu mit einer kühnen Klangsprache. (Zu) gewagte harmonische Verläufe und die ungewohnte Eigenständigkeit der Instrumente eröffneten neue Ausdrucksqualitäten, die aber nicht nur goutiert wurden. Er sah sich daher zu Umarbeitungen gezwungen und es entbrannte sogar ein grundsätzlicher Streit zwischen den Lagern Lully und Rameau.
Fioroni schlägt aus dieser Begegnung von ‚alter‘ Ordnung und Modernität szenisches Potenzial. Zurechtgestutzte Bäume, die Verehrung eines Herrschers, barockes Dekor, Schein oder Sein – ob das noch tragfähig ist, dem ist man sich hier nicht mehr so sicher. Der Absolutismus wird zelebriert und hat zugleich den Zenit überschritten. Das zieht sich vom raumgreifenden Bühnenbild (Paul Zoller, Loriana Casagrande) über die Choreographie der Ballette (Pascale-Sabine Chevroton, Luches Huddleston) bis in die Details des Kostümbilds (Katharina Gault), die den barocken Glanz zwar aufrufen, aber diesen gleichzeitig als groteske Staffage und mittels Versatzstücken aus der heutigen Welt demontieren. Da rollt ein Mercedes vor das angedeutete Versailler Schloss und galoppieren zweibeinige Pferde durch die Kulisse. Revolutionäre Szenarien zeigen sich am Horizont, die (weite) historische Achsen andeuten. Demonstrant*innen in gelben Jacken (oder Westen?) bevölkern die Bühne und der dumpfe Schlag der Guillotine beendet den Herrscherjubel.
Das Verharren in einer Umbruchszeit wirkt auf den Gemütszustand der Protagonist*innen. So stolpern Hippolyte und Aricie durch eine Welt, der sie nicht angehören. Die permanente emotionale Überspanntheit der Figuren ist Symptom eines zu lange währenden Systems. So wird die intrigante Phèdre von einem Extremzustand in einen anderen katapultiert, den Sophie Rennert szenisch wie musikalisch eindrucksvoll nachzuempfinden vermag. Sie arbeitet sich scharfzüngig an der Diktion der französischen Sprache entlang und erzittert kurz vor ihrem Selbstmord. Auch König Thésée (Nikola Diskić), der zunächst noch Souveränität zu wahren versucht, gerät allmählich in den Strudel emotionaler Verwirrung.
Bernhard Forck, der den Abend musikalisch leitet, kombiniert Gambe, Laute, Cembalo und (eine nachgebaute) Musette mit modernen Instrumenten und kitzelt eine Farbigkeit und Lebendigkeit aus den Musiker*innen des Nationaltheaterorchesters heraus, die sich jeglicher Erlahmung verweigert. Da glimmt es, da brodelt es, da atmet man mit. Die Mannheimer Produktion folgt maßgeblich der Uraufführungsfassung, erfuhr aber nach dem Ausfall der Premiere 2020 eine umfängliche Corona-Umarbeitung. Neben Strichen im Aktinneren wurde der Prolog, der bei Lully noch stark im Dienst der Herrscherverherrlichung steht, in aufgesplitterter Form in das Stückinnere verlegt und mit einzelnen Nummern aus anderen Rameau-Opern angereichert. Zwar lassen die Kürzungen manche Figuren etwas blass erscheinen, aber aus dieser Fassung ergibt sich eine musikalisch wie dramaturgisch sinnvolle Energiekurve, die An- und Abspannung erzeugt und nie ermüdet. Eingespielte atmosphärische Sounds sorgen dafür, dass dieser sinnliche Faden auch in den Aktübergängen nicht abreißt.
Klanglich farbenreich und überraschend zeigt sich auch die Besetzung. Patrick Zielke als Pluton (auch Jupiter) gewinnt seinem Stimmapparat mit Raunen und einem geschickten Einsatz der Register eine Geräuschhaftigkeit ab, die sich in das grotesk-morbide Setting der Unterwelt im zweiten Akt einfügt. Charles Sy als Hippolyte kommt in der zweiten Hälfte des Abends so richtig in Hochform, als sein runder, warmer Ton im Duett mit Phèdre plötzlich in einen emotionalen Ausbruch umschlägt.
Die Produktion bietet durch die kondensierte Fassung und die vielen visuellen Ebenen, die durch Videoprojektionen (Christian Weissenberger) noch erweitert werden, ein üppiges Bildangebot auf, das die hochästhetisch und klug geführte Kameraregie nicht gänzlich einzufangen vermag. Doch die Aufzeichnung (Filmproduktion: klangmalerei.tv) sucht gar nicht nach einem Abgleich mit einer Live-Aufführung vor Ort. Das Kameraauge ruht nur wenige Lidschläge auf derselben Szenerie, zeigt das Nationaltheater aus neuen Blickwinkeln, fungiert als Spielpartner, vergrößert die emotionalen Grenzzustände der Figuren und hat nichts mit abgefilmtem Theater zu tun. Man meint, diese Produktion könnte fast nur als Film existieren, und doch bleibt zu wünschen, dass man ihr einmal live teilhaben kann.
Der Stream ist bis zum 30. Juni 2021 kostenlos unter anderem hier abrufbar.