Foto: "Jugend ohne Gott" am Gostner Hoftheater. Matthias Rott, Thomas Witte, Gerd Beyer © Alexander H. Schulz
Text:Dieter Stoll, am 20. September 2015
Was hätte dieser um Aufklärung und Pensionsanspruch gleichermaßen besorgte Lehrer wohl darum gegeben, wenn schon damals ein furchtloser Minister die Öffentlichkeit über die Existenz von „wunderbaren Negern“ informiert und Vorurteile säuberlich der passenden Quote zugeordnet hätte. Aber Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ spielt deutlich vor der CSU-Gründung. 1937 geschrieben, hatte er es bereits im Jahr darauf auf die berüchtigte Gestapo-Liste „schädlichen, unerwünschten Schrifttums“ geschafft, immerhin auch bis in die Vorzimmer der Drehbuch-Werkstatt von Hollywood. Nun also Theater.
Der eher unvorsichtige als mutige Pädagoge, um dessen Gerechtigkeitsschübe sich die Wucherungen der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den beiden Weltkriegen ranken, bemängelte rassistische Attacken im Aufsatz eines Schülers mit dem eher verhaltenen Hinweis, dass Farbige „doch auch Menschen“ seien. Anlass genug für den Auftritt vom deutschnationalen Papa Wutbürger, der in der Rüge für den Sohn „das Gift der Humanitätsduselei“ wittert. Die ganze Schulklasse, dem verordneten Zeitgeist im Schwarm verfallen und folgerichtig nur in Anfangsbuchstaben statt in Namen präsent, geht mit Hurra auf Konfrontation. Beim vormilitärischen Sommerlager, das ein verrenteter Zackzack-Feldwebel kommandiert, kommt es zu Gewalt und Liebeskummer. Viel später, wenn die Story in steilen Kurven von der Gebrauchs-Philosophie (die Seele des Menschen, so unbeweglich wie „das Antlitz eines Fisches“) über die Frage nach Religion (Fehlt der Jugend ein Gott oder nur der Charakter?) bis zum blanken Krimi (Wer hat wen warum ermordet?) gesaust ist, wird man den Spitznamen erfahren, der dem Pauker geblieben ist: „Neger“. Steilvorlage für die brüchig gewordene Ironie der finalen Pointe, deren absichtsvoll herausfordernd platzierte Munterkeit in der Bühnenfassung des Gostner Hoftheaters denn doch stark irritiert. Tatsächlich flieht der frustrierte Anti-Held auf der Suche nach dem verlorenen „gütigen Gott“ unter Anleitung eines wortgewandten Pastors aus dem deutschen Moral-Chaos in die afrikanische Mission, geht mit süffisanter Ankündigung „als Neger zu den Negern“. Hm!
Der Roman vom Außenseiter auf Abruf kommt in 44 kurzen Kapiteln über viel Einzel-Personal und reichlich anonymer Menschenmasse zu seinen seufzenden Erkenntnissen. Unter der Hand der Berliner Regisseurin Wenke Hardt ist daraus eine literarisch stabilisierte Impro-Spielvorlage für drei sprungbereite Herren im Wechselrahmen geworden. Einerseits mittendrin im aktuellen Scanner-Trend einer Abtast-Dramatisierung aller Romane, die nicht bei „Eins-zwei-drei“ ins hinterste Buchregal gerutscht sind, aber in der konkreten Nürnberger Realisierung dann doch selbstsicher genug für einen mehr als ehrenvollen Interpretations-Randplatz im Bannkreis des großen Ödön von Horváth.
Die Schauspieler Gerd Beyer, Matthias Rott und Thomas Witte hechten lustvoll durchs Typen-Kabinett. Sie sind polternde Männer, hysterische Frauen und verstockte Kinder nach Bedarfslage, schalten per Blickwechsel von einer Figur zur andern, ballen sich im Dreierpack zur marschierenden Schülerkompanie oder zum schräggestellten Barhocker-Männerbund und finden aus dem Tonfall der grellen Karikatur jederzeit souverän zurück in die leise Nachdenklichkeit. Wo der Text in seinen Metaphern abdriftet und die stumpfe Gesichtslosigkeit der Gesellschaft zum „Zeitalter des Fischs“ erklärt wird, findet Regisseurin Wenke Hardt rechtzeitig komödiantische Notausgänge. Vor allem aber gelingt ihr mit der Spaltung der Lehrer-Persönlichkeit in zwei konkurrierende, gerne auch in Doppel-Conférence antretenden Figuren eine Barriere gegen die bedrohliche Allgemein-Melancholie. Statt der inneren Monologe zwischen den Aktionen, die im Roman geradezu therapeutische Dimensionen annehmen und auf der Bühne so gar nicht zu bewältigen sind, ist das hier ein latentes Zwiegespräch in Auseinandersetzung mit Zweifeln und Hoffnungen.
Was den Thriller-Anteil betrifft, dem damaligen Leser wie dem heutigen Zuschauer immer ein Garant für die wohligsten Schauer, lässt die Aufführung nichts zu wünschen übrig. Sie hält die Spurensicherung, erst die falsche und dann die mächtig psychopathisch aufgeladene, ganz spannend entspannt im Spielfeld. Der Junge von 1937, der da mit dem ausdruckslosen Lächeln eines Fischs über Leben und Tod triumphieren wollte, könnte ohne weiteres im nächsten „Tatort“ auftauchen. Und währenddessen könnte man ja den Roman nochmal lesen.