Foto: "Onkel Wanja" von und nach Tschechow am Staatstheater Cottbus © Marlies Kross
Text:Detlev Baur, am 5. November 2017
Anton Tschechow ist doch dieser alte Russe, dessen Stücke irgendwie komisch sein sollen, in denen es aber wenig zu lachen gibt und dazu auch überhaupt nichts passiert. Dennoch hat sich Jo Fabian, der neue Schauspieldirektor am Staatstheater Cottbus für seine erste Schauspielinszenierung ausgerechnet in unserer aufregenden Gegenwart Tschechows „Onkel Wanja“ ausgewählt. Und er lässt die Inszenierung mit einem minutenlangen wortlosen Vorspiel beginnen, als solle im prunkvollen Cottbuser Jugendstiltheater ein historisierendes Russlandbild aus vorrevolutionärer Zeit entstehen oder gar eine Neuauflage der extremen Naturalismus erstrebenden Bühnenkunst des ersten Tschechows-Regisseurs Konstantin Stanislawskij. In einem hinteren Raum stehen oder liegen sogar einige echte Ziegen, der Salon davor zeigt eine deutlich verfallene Pracht, die Vorderwand steht zwar noch, ist aber durch große Seile befestigt und rechts unten scheint gar ein schwarzer Flügel durch das Mauerwerk hindurchgebrochen (Ausstattung: Pascale Arndtz). Genauer besehen – und dafür ist anfangs ja genügend Zeit – hat der Schauplatz also doch einige Kratzer und Brüche: Im Salon stehen zwei Birken und der Spiegel links in der Vorderwand ist tatsächlich eher ein Fenster.
Nachdem also Vögelzwitschern und Geflügel lockende Laute zu hören waren, und die alte Kinderfrau (Michaela Winterstein) russisch vor sich hin gebrabbelt hat, aber auch das ganz unpassende Brausen eines Flugzeugs die russische Gesellschaft durch die durchlöcherte Wand hindurch Richtung Publikum blicken ließ, greift endlich ein Herr mit Melonenhut ein Mikrofon und führt das Publikum – durch den falschen Spiegel hindurch – ins Spiel ein. Mit starken russischen Akzent stellt Wanja (Axel Strothmann) die trübe Lage dieser kleinen Gesellschaft vor. Der Besuch des Professors Serebrjakow (Thomas Harms) und seiner jungen Frau (Lisa Schützenberger) haben Wanja und seine Nichte Sonja (Lucie Thiele) für diesen Sommer von der gewohnten Pflege des Guts abgehalten – bis die Städter zum guten Ende, zweieinhalb Stunden später endlich wieder abreisen.
Auch die anderen Figuren sprechen mit charmantem Akzent und wenden sich immer wieder erklärend ans Publikum, machen aus der Inszenierung eine komische und ungemein unterhaltsame Tschechow-Überschreibung. Der besonders präsente Arzt Astrow (Gunnar Golkowski) verzettelt sich mit Wanja in eine komische Diskussion, ob das Wetter nun schwül oder schwul sei. Solch alberne Exkurse beleben das Treiben auf der Bühne – zumal das gesamte Ensemble die beschränkten Figuren gerade durch ihre Offenheit gegenüber dem Publikum glaubwürdig macht, und dabei unversehens in existenzielle Extremsituationen führt. Selten gab es bei einer Tschechow-Inszenierung so viel zu lachen – und mitzuleiden, gerade weil sie nicht Tschechows Figuren nachbilden will, sondern mit Hilfe der Textvorlage ein überzeugendes Gesellschaftsporträt zeichnet.
Der Pianist Hans Petith fordert für sein Spiel am Flügel immer wieder Applaus ein (holt auch einmal eine Maus aus dem Instrument) und verschränkt sich andererseits wunderbar mit den Gefühlslagen der Figuren. Weniger russische Weisen als anglophohne Lieder, aber auch deutsches Liedgut oder rasante Rhythmen erweitern den durchbrochenen Horizont einer längst vergangenen russischen Sommergeschichte. Im Zentrum steht weniger ein ermatteter, vom Weg abgekommener Held der Arbeit (Wanja), eher sind es vom gesellschaftlichen Rollenspiel ermattete Clowns. Die Mutter des Professors (Sigrun Fischer) lässt sich auf einer Rollator-ähnlichen Plattform über die Bühne schieben, der Parasit Telegin (Amadeus Gollner) betrachtet das Treiben der anderen auch einmal im Kopfstand. Und die in blendendem Kostüm samt Sonnenschirm die Männer bezirzende Frau des Professors gesteht, dass sie sich selbst als unscheinbare Nebenrolle sieht. Die Szene zwischen ihr und (der bei Männern weniger erfolgreichen) Stieftochter Sonja, in der sie sich die Herzen ausschütten, während der (von beiden ) angebetete Astrow vom Wodka überwältigt am Boden kauert, ist eine der Höhepunkte einer in allen Beziehungen gelungenen Inszenierung, die keine Angst vor Komik hat und ganz ernsthaft unterdrückte Wünsche als großes Übel der Gesellschaft entlarvt. Dabei haben Fabian und das Ensemble gekonnt zahlreiche kleine Aktionen zu einem stimmigen Bild komponiert.
Das gesetzte Premierenpublikum um mich herum war spürbar irritiert, weil der Klassiker so direkt auf die Bühne kam, und konnte sich der beißenden Komik und den damit verbundenen existenziellen Abgründen bei allen bildungsbürgerlichen Vorbehalten einfach nicht entziehen. Ein großer Theaterabend.