Szene aus Detlev Glanerts Kammeroper "Nijinskys Tagebuch" bei den Bregenzer Festspielen.

Bregenzer Dramaturgie

Detlev Glanert: Nijinskys Tagebuch

Theater:Bregenzer Festspiele, Premiere:04.08.2012Regie:Rosamund GilmoreMusikalische Leitung:Ingo Ingensand

Intendant David Pountney belässt es nicht bei der üblichen Praxis, durch eine Uraufführung schnell mal die Fachkritik an den Bodensee zu locken. Detlev Glanert, der Bregenzer _Komponist des Jahres_; wurde auch als Symphoniker und Kammermusiker vorgestellt. Ergänzend war im Kornmarkttheater seine Kammeroper „Nijinskys Tagebuch“ zu erleben. „Sie wollen, dass ich das gleiche Leben führe wie sie“ – diesen erkenntnishellen Satz schrieb der singulär begabte Tänzer Waslaw Nijinsky 1919 in eines seiner Notizbücher. Da war er, der von der sensationsgierigen Kultur-Elite Europas zum Tanz-Gott der berühmten _Ballets Russes_ stilisiert worden war, schon der Schizophrenie nahe.

Aus den drei Heften selbstanalytischer und selbsttherapeutischer Aufzeichnungen des ab 1920 geisteskranken Nijinsky hat Carolyn Sittig eine nur durch Gedankensprünge gegliederte, anderthalbstündige Text-Suada gefiltert. Detlev Glanert hat dies dann auf zwei auch sprechende Tänzer, zwei Schauspieler und zwei Sänger verteilt und auch mal chorisch komponiert: Wahnvorstellungen, Persönlichkeitsspaltung, sexuelle Phantasien und utopische Projektionen wechseln, durchdringen und überlagern sich. Dazu hat Glanert für vierzehn teils solistisch geführte Instrumentalisten eine stilistisch breit gefächerte Kammer-Partitur von Englischhorn bis Saxophon geschaffen. Da erklingen alle Spielarten zeitgenössischen Komponierens, auch Blues und Jazz und Nachtklub-Swing in dem bunten Mix, wie ihn der Star Nijinsky zwischen Côte d‘Azur, Paris und London erlebt hat – von Mitgliedern des Symphonieorchesters Vorarlberg unter Ingo Ingensand reizvoll gespielt. Nur drehte sich das Werk nach 20 Minuten inhaltlich im Kreise– Gesamteindruck: Nijinskys Scheitern ergäbe eher Bühnenstoff für eine expressiv verdichtete „Dramatische Szene“, nicht für ein abendfüllendes Werk.

Das ist auch der Eindruck, den Rosamund Gilmores Inszenierung vermittelt. Als Tänzerin und Choreographin zeigt sie in Inszenierungen oft eine beeindruckende Körpersprache ihrer Solisten. Doch natürlich kann der hier eingesetzte Tänzer nicht viel mehr als ein paar Figuren und Handhaltungen Nijinskys nachahmen. Ob die Tänzerin für Nijinskys zerstörerische Homosexualität stehen soll, blieb unklar. Sänger und Schauspieler wechselten durch Haltungen und Texte und Gesangsphrasen hindurch. Die Gleichzeitigkeit des Vielen vermittelte, gekonnt zwar, aber abermals nur: Wirrnis – und nur bei bald einsetzender kritischer Reflexion auch die Einsicht: Das ist alles gegeneinander austauschbar, ohne Steigerung oder Wendepunkt. So blieb als starker visueller Eindruck die Bühne Nicola Reicherts: Entsprechend der lebenslangen Unbehaustheit Nijinskys stand im schwarzen Raum eine weiß-graue Kofferlandschaft aufgetürmt, fürs Sitzen, Liegen, Verkriechen, Lungern, Lagern, Umkreisen und Übersteigen. Parallel zum Realitätsverlust Nijinskys hob sich diese Kofferlandschaft in den schwarzen Raum – ein frappierend gelungenes Sinnbild für all das Surreale des Werkinhalts. Das trug zwar nicht den ganzen Abend, dennoch gab es für alle Beteiligten einhelligen Beifall.

Ganz anders das Trost- und Appetit-Konzert von HK Gruber. Da er seine Bregenzer Auftragskomposition „G’schichten aus dem Wiener Wald“ erst für 2014 fertigstellen kann, tröstete er das Publikum mit einem seiner fulminanten _Show-Konzerte_. Die Wiener Symphoniker trafen unter seiner Leitung zunächst konzertant zweimal den bissigen Eisler-Tonfall und machten anschließend mit der kess und keck im modernisierten Zwanziger Jahre-Look auftretenden Gun-Brit Barkmin Brecht-Weills „Sieben Todsünden“ zum ersten bejubelten Höhepunkt. Dann baute seine HK Gruber seine Spielzeug-Musikinstrumente auf – und bot mit den höchst animiert mitgehenden Symphonikern eine Musik- und Bühnen-Show der unvergesslichen Art. Sein „Frankenstein!!“ steigert die oft surreal, ja „hinterfotzig“ verfremdeten Kinderreime H.C.Artmanns ins musikdramatisch Abstruse, Monströse – und entlarvt nebenbei alle Trivialmythen. Der fast 70-jährige HK Gruber ist dabei als Schräg-Sänger, Anti-Rezitator und Konzert-Clown des höheren Schwachsinns nicht zu übertreffen. – Bregenz bleibt das Festival der besonderen Art!