Foto: Eine Art Staatstheater am Tag der deutschen Einheit: "Das Grundgesetz" © Ute Langkafel
Text:Elena Philipp, am 4. Oktober 2018
Tag der deutschen Einheit in Berlin, Volksfest rund ums Brandenburger Tor: Zu Bratwurst, Bier, Boulette gibt’s eine Portion Wir-Bestärkung, Beats auf der Höhe der Musikindustrie und eine Prise politischer Bildung. Auch mittels Theater: Die polnische Regisseurin, Sängerin und Spezialistin für das Chorische, Marta Górnicka, unterzieht Deutschlands Grundgesetz auf der Hauptbühne am Brandenburger Tor einem performativen „Stresstest“: Wie lang ist eine sichere Nutzung der Verfassung gewährleistet, ab wann ist mit einem Ausfall zu rechnen?, formuliert das Programmheft mit Bezug auf Belastbarkeitstests in der Industrie oder Medizin. „Kann ein Text, der ‚allen Deutschen‘ Grundrechte gewährleistet, vor Gewalt und Rassismus schützen? Ist ein Text, der die Demokratie ‚garantiert‘, auch in der Lage sie zu ‚verteidigen‘?“ Ja, das sind bestürzend aktuelle Fragen. Also gibt’s im Herzen der Hauptstadt massiv und druckvoll die Grundrechte aufs Ohr.
Nachdem zwei Fanfarenzüge blechblasend und trommelwirbelnd über die Bühne marschiert sind – als Beleg lebendiger FDJ-Traditionen, Erinnerung an den preußischen Militarismus und seine Parodie im Karnevalsumzug –, reiht sich Górnickas Chor am hinteren Bühnenrand auf. 48 Berliner Bürgerinnen und Bürger sowie Ensemblemitglieder des Maxim Gorki Theaters und des inklusiven Theaters „Ramba Zamba“ haben Górnicka und ihr Team zum programmatischen „Wir“ gruppiert: Maximal divers sind äußerlich die für „Grundgesetz“ gecasteten Subjekte der deutschen Verfassung – in Alter, Körpergröße, Kleidungsstil, Gender und dem, was in Grundgesetz Artikel 3 nach wie vor „Rasse“ heißt, aufgrund derer niemand benachteiligt oder bevorzugt werden dürfe. Eine Utopie ist dieses Abbild Deutschlands, eine, die das Gorki unter Intendantin Shermin Langhoff öffentlich laut einfordert und, auf der nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernten eigenen Theaterbühne, in diversitätsbewusst unterhaltenden Produktionen realisiert.
Einzelne Stimmen beginnen nun die Präambel des Grundgesetzes zu skandieren. Kraftvoll synchron ist die Rezitation der das Grundgesetz tragenden Bundesländer; der Passus „das gesamte deutsche Volk“ hingegen wird programmatisch vielstimmig. Das deutsche „Wir“, so Górnickas zentrale These, ist eben keine homogene Masse, sondern eine heterogene Vielheit. Erhebend idealistisch klingt der Gesetzestext, der in Auszügen vorgetragen wird, mal unisono, mal in Wechselrede, frontal ans Publikum gerichtet oder in Bewegung. Engagiert dirigiert Marta Górnicka, während neben ihr eine strahlende Shermin Langhoff mitspricht und -wippt, am Schluss in der „Patriotic Disco“ gar mit abtanzt. Verfassungspatriotismus ist sexy!
Auf der Bühne branden aber erst einmal die Grundrechte auf: Unantastbare Würde, Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Mutterschutz – recht identitätsfixiert vorgetragen etwa von einer Frau, die zwei Kinder umarmt hält, dann bestärkt von einem jungen Mann. Beifall spendet die Zuschauermenge, laut Veranstaltern mehrere Tausend Menschen, als Artikel 16a (1) vorgetragen wird: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Keine Selbstverständlichkeit mehr, denkt man. Martialisch wirkt der Chor, wenn er vom Verwirken der Grundrechte bei ihrem Missbrauch kündet und an die Verfassungswidrigkeit von Parteien erinnert, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen trachten. Regelrecht eingehämmert wird uns Zuschauerinnen und Zuschauern das Widerstandsrecht, jener Artikel 20 (4), der die Wirren der Weimarer Republik und eine neue (Nazi-)Diktatur verhindern soll.
Ein starkes Stück, dieser Gesetzestext, und zugleich fragil – ja, die von Marta Górnicka machtvoll in Szene gesetzten Protagonistinnen und Protagonisten wecken das Verlangen, dieses Wertewerk zu verteidigen gegen seine Gegner. Eingeschworen aufs „Wir“ der Verfassungstreuen aber lauert ein leiser Verdacht: haben „Wir“ hier wieder nur zu „uns“ gesprochen? Überwindet ein Projekt wie das „Grundgesetz“ gesellschaftliche Gräben oder vertieft es sie, weil es assoziativ Feindbilder heraufbeschwört? Oder geht es genau darum: Wer die Verfassung einzuschränken sucht, hat seine Grundrechte verwirkt und gehört eben nicht mehr zum deutschen „Wir“? Gibt es sie also noch, die deutsche Einheit? Diese Fragen nimmt man mit vom Festgelände, sie transzendieren Bier und Bratwurst.