Foto: Eine Inszenierung wie ein Wimmelbild, von links: Matthieu Svetchine als König Oswald, die vier Opernsänger, vorn rechts Schorsch Kamerun als „Abendspielleiter Thomas Sehl“. © Foto: Claudia Hoppens
Text:Detlef Brandenburg, am 30. Oktober 2022
„Musiktheater-Happening über alte und neue Katastrophen von Schorsch Kamerun nach Henry Purcell“: Dieser Untertitel zur neuen „King Arthur“-Produktion am Theater Bremen ist doch mal eine Ansage! Eine konventionelle Aufführung von Purcells Semi-Opera, in der man einige der berühmtesten Opernnummern des britischen Barockkomponisten findet, wird man danach jedenfalls nicht mehr erwarten. Allerdings: Was heißt in dem Fall schon „konventionell“. Purcells „King Arthur“ ist eigentlich per se eine Art „Happening“, in dem die Musik mit spielerischer Spontaneität interveniert in das eigentlich als Schauspiel vorgetragene Drama um König Arthur und seinen Widersacher Oswald, die um die Macht und die schöne Emmeline kämpfen. Zauberer und andere Luftgeister mischen takräftig mit dabei, und die Geschichte ist so effekthascherisch gefügt, die Musik irrlichtert so unbekümmert darin herum, dass die Regisseure in diesem Werk schon oft das Material für eigene dramaturgische Kreationen gefunden haben. So auch hier.
Nur dass Schorsch Kamerun, Gründungsmitglied und Sänger der Polit-Punk-Band Die Goldenen Zitronen, und sein musikalischer Mitstreiter, der Elektro-Punk-Komponist PC Nackt (fragen Sie bitte nicht so genau nach dem Genre, denn er ist laut Biographie des Theaters ein „Postgenre-Komponist“), gleich mal die Hälfte von Musik und Text weggelassen und die Lücken aufgefüllt haben mit ihren eigenen elektronisch pulsierenden Klangwelten und semantisch verschlungenen Rap-Wortkaskaden. Die Oper bietet ihnen neben der reizvoll kontrastierenden Musik dazu vor allem die thematischen Stichworte: Macht, Kampf, Besitzergreifung und Herrschsucht. Wer wollte ausgerechnet in diesen Monaten leugnen, dass das wahrlich Themen von zeitloser Relevanz sind? Und sie bietet, wie gesagt, mit ihrer Genre-Mischung auch gleich das Stilprinzip, das dieser Abend bis zum Exzess treibt.
Tohuwabohu bei bester Laune
Er ist wahrlich ein „Happening“ von allem, was so ein Mehrspartentheater wie das Bremer zu bieten hat – und noch viel mehr: Unter dem Dirigenten Lutz Rademacher musizieren die um einige barocke Generalbass-Instrumente verstärkten Bremer Philharmoniker stilsicher: agil, schlank und Vibrato-arm. Aus dem Opernensemble steuern neben dem gut präparierten Chor Marysol Schalit, Nadine Lehner, Hyojong Kim und Christoph Heinrich einige bemerkenswert schöne Arien bei. Unter den Schauspielern der Arthur-Handlung ragen neben Guido Gallmann (König Arthur), Matthieu Svetchine (König Oswald) und Christian Freund (er spielt gleich beide Zauberer) insbesondere Annemaaike Bakker als Emmeline und Karin Enzler als Luftgeist Philidel durch die einprägsam-eigenwillige Profilierung ihrer Figuren heraus. Junge Akteur:innen von der Jugendtheater-Sparte des Theaters Bremen, Studierende des Zentrums für Performance Studies von der Uni Bremen und Mitglieder des diesem Institut angeschlossenen Theaters der Versammlung sorgen für verwirrend vielschichtige Aktionen auf der Bühne und auf dem Goetheplatz vorm Theater. Das Programmheft verzeichnet dazu lange, höchst illustre Namenslisten, zum Beispiel einen „Perkussiven Ritter“, die Mitglieder des „Instituts für fluide Grenzen, Herein- und Herausgrenzung“ oder die „Anti-Denkmal-Bauerinnen“. Aha – fragen Sie mich jetzt aber bitte nicht, was genau die alle gemacht haben.
Sie wimmeln miteinander und umeinander herum in ihren Kostümen von Gloria Billowska, die teils mindestens so skurril sind wie die Namen. Dafür hat Katja Eichbaum eine düster verschachtelte, sehr atmosphärisch-effektvolle Bühne gebaut, in deren Hintergrund ebenso wie auf einem Screen hoch oben Live-Videos (Michael Dreyer) von Aktionen drinnen auf der Bühne und draußen vorm Theater flimmern. Man spürt in jedem Moment, dass dieses Tohuwabohu der interdisziplinären Interaktionen aus einem munteren, gutgelaunten Crossover-Teamwork entstanden ist, in dem jeder das Seine beigesteuert hat, auf dass es Schorsch Kamerun zu einem hybriden Ganzen forme. Das ist ihm ziemlich gut gelungen!
Hingerissen im Wortschwall
Diese Bilderwelt mit all ihrem Kommen und Gehen, ihren Requisiten und Bildebenen hat ihre ganz eigene, buchstäblich namenlose Poesie. Diese semantische Indifferenz führt allerdings dazu, dass all das, was Schorsch Kamerun kommunizieren möchte – jene Auseinandersetzung über Macht und Abgrenzung, Orden und Ordnung, Kampf und Feindseligkeit, es ist wahrlich viel, was er da auf dem Herzen hat – dass all das über die Textebene vermittelt werden muss. Und so, in allerbester kommunikativer Absicht, ergießt sich neben ein bisschen Barock-Libretto von John Dryden ein ganzer Schwall kunstvoll gedrechselter, lyrisch verschlungener Raptexte auf die Zuschauer, dass einem neben den Sinnen der Wahrnehmung sehr bald auch noch der Verstand schwirrt. Wie die bildliche Ebene ist natürlich auch die textliche auf Überforderung angelegt: Man soll und muss nicht alles verstehen, identifiziert aber sehr wohl die politische Haltung gegen Macht und Krieg und Kampf und schier gegen alles, was so nach landläufiger Überzeugung gutmeinender Menschen böse, böse, böse ist.
So aber kommt es, dass dieser anfangs so sympathisch offene, verwirrende Abend seltsam affirmativ endet. Die schöne Emmeline wird sehend und findet die Welt (sie nennt sie „das System“) gar grauslich. Und weil diese gar so grausliche Welt gar schlecht auszuhalten ist, feiert ihr Seelenverbündeter, der Luftgeist Philidel, alsbald in einem langen Monolog eine Utopie der fallenden Grenzen und ein Fest der Partizipation, wo unter dem sanften Flügel der Freude alle Menschen Brüder werden. Man hörte dergleichen gelegentlich ja schon. Hier wie dort aber wirkt dieser Verbrüderungsappell im Namen der Kunst („Lass uns mit unserer Kunst uns so tief schützen, dass die Ordenverteiler niemals so tief hinabsteigen können. Lasst uns gemeinsam vibrieren / uns in einem selbst gewählten Schatten aufhalten / Hier sind wir unschlagbar hell“) heillos unterkomplex angesichts einer wahrlich verzweifelt gewaltförmigen Weltlage.
Große Verbrüderung
Insofern erinnert der Abend wirklich an manches linke Happening der 70er Jahre, bei dem die politisch bewegten Aktivisten vor lauter Relevanz kaum zum Punkt kamen und vor allem sich selbst wichtig nahmen. Diese Utopie reicht nicht weiter als die Kommunikationsblase, aus der sie sich speist. Und das liegt eben daran, dass die Sinnvermittlung vor allem über das politisch aufgeladene Wort funktioniert. Ästhetische Bilder sind offen, vieldeutig, so dass der Zuschauer selbst sie zu Ende denken muss. So kann er seine ganz eigene utopische Sehnsucht entdecken, für die er dann aber einstehen muss. Politische Worte dagegen sind eindeutig und direktiv – und so endet das semantische Kreisen der „Texte, die uns brüderlich meinen“, in einem trotz durchscheinender Ironiesignale arg selbstverliebten Brainschwurbeling. Sei’s drum – den Wimmelbildern dieses Abends hatte man dennoch gerne nachgestaunt. Der großen Verbrüderung auf der Bühne folgte die jubelnd applaudierende Verbrüderung mit dem Publikum. Die Welt schien gerettet – zumindest bis zum Ende der Premierenfeier.