Foto: Hans Kremer und Sandra Hüller in "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall" an den Münchner Kammerspielen © picturesberlin
Text:Detlev Baur, am 29. Oktober 2012
Die Münchner Kammerspiele werden 100 und Elfriede Jelinek schenkt ihnen ein Stück: Über die Maximilianstraße, an der sich das Theater befindet, die aber dominiert wird von Edelboutiquen. Mode und Verkleidung ist denn anfangs das Leitmotiv von „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.“ Die scheue und zugleich selbstironische Autorin mit ausgeprägter „Schwellenangst“ lässt ihre Sehnsüchte mit einfließen, spielt auch auf „Die Bakchen“ des Euripides an, wo der Theatergott eine Stadt und ihre Frauen außer Kontrolle geraten lässt. Auch der Kauf- und Verwandlungsrausch auf der Straße könnte so eine Art ekstatischen Zustand bedeuten – oder seinen Ersatz.
Der Beginn der Inszenierung von Intendant Johan Simons ist viel versprechend. Auf einer Plattform zwischen verkleinertem Parkett und einer kleinen Extra-Tribüne auf der Rückseite der Bühne wird diamanten glänzendes, körniges Eis verteilt (Bühne: Eva Veronica Born), das unter den Stöckelschuhen von Stephan Bissmeier, Hans Kremer, Steffen Scharf, Marc Benjamin und Maximilian (!) Simonischek dahinschmilzt. Sandra Hüller erscheint dann unter einer großen Edel-Papier-Tasche und besingt zur Musik der seitlich auf dem Podest platzierten Band ihr Schicksal von der Differenz zwischen Schönheit und Ich. Die Schauspielerin agiert mit Wärme und Witz, zeigt ein liebenswertes Alter-Ego der Autorin. Und Steffen Scharf verwandelt sich in einen städtischen Honoratioren mit Frack und Zylinder, wird zur Stadt selbst. Diese Eindeutigkeiten in Verbindung mit der Musik, die eher an Paul Dessau als an München und seine zwiegesichtige, modische Straße gemahnt, lassen das Straßenspiel zunehmend putzig wirken. Auch scheint Jelineks Text, bei aller souveränen Verspieltheit, nicht die Schärfe und Kraft zu haben, die andere Werke von ihr auszeichnen. So besonders groß scheint ihr spöttischer Hass auf Stadt und Straße nicht zu sein. Fast geraten manche Partien zum Kabarett, mit netten Spitzen auf die Dörflichkeit des Ortes oder auf die freundlichen „Stadtführer“ und die weniger sympathischen Herren im Landtag (am Ende der Straße).
Nach der Pause ist das Spiel dann von allen tragischen Anspielungen befreit; mit dem Tod des Originals Mooshammer – gewohnt intensiv gespielt von Benny Claessens, der erst eine monströse Maske trägt und sich diese dann vom Gesicht zieht – scheint die Inszenierung endgültig beim Fasching, der Lach- und Schießgesellschaft oder beim Edel-Boulevard angekommen. Die kritische Distanz zur Straße ist in diesem Spiel dem freundlichen Beschreiben der Szene gewichen. Mooshammers Tod als Tod der Straße bleibt eine kraftlose Behauptung. Dem Stück, so scheint es, fehlt es an Biss; die Inszenierung mildert, bei aller Klasse der Darsteller, die Schärfe des Textes noch durch eine Personalisierung, die an der sprachlichen monologischen Virtuosität vorbei geht. Auch durch den gut gespielten, aber seltsam musealen Sound der Musiker dominiert das Operettenhafte. Dieser Theaterabend über die Stadt und die Straße des Theaters ist ein zu nettes Geschenk.