Foto: "Liberté Cathédrale" von Boris Charmatz in Wuppertal © Uwe Stratmann
Text:Bettina Trouwborst, am 10. September 2023
Boris Charmatz gelingt mit seiner ersten Kreation „Liberté Cathédrale“ mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch eine kraftvolle Choreografie an einem besonderen Ort, die dennoch wenig berührt.
Sie stürzen in den Altarraum, als ginge es um ihr Leben. Werfen sich auf den Boden – und singen. Es ist Beethovens letzte Klaviersonate (Opus 111), die die Tänzerinnen und Tänzer zwischen den Atemzügen intonieren, liegend, tanzend, rollend. Und ja, es geht um ihr Leben. Es geht um nichts Geringeres als die menschliche Existenz, die persönliche Freiheit des Individuums und ihre Grenzen. Klar und deutlich hallen die Stimmen unter der 34 Meter hohen Domkuppel. Die Akustik ist überwältigend.
Spektakulärer Ort
Boris Charmatz denkt groß. Seiner Vorliebe für Events und spektakuläre Orte folgend, hat der Intendant des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch für seine erste Kreation mit dem weltberühmten Ensemble den gewaltigen Mariendom in Velbert-Neviges unweit von Wuppertal erkoren. In diesem sakralen Bau des Architekten Gottfried Böhm im Stil des Betonbrutalismus‘, eingeweiht 1968, setzt er „Liberté Cathédrale“ in Szene – mit voller Wucht. Dazu hat er das Wuppertaler Ensemble mit seinem französischen choreografischen Labor namens „terrain“ zusammengeführt. Die Produktion besteht aus fünf Teilen: Opus, Geläut, For Whom the Bell Tolls, Stille, Berühren.
Einnehmende Bewegungsbilder
Die Eingangsszene des ersten Teils wird sich so oder ähnlich noch mehrfach wiederholen. Die insgesamt 26 Akteurinnen und Akteure rennen, drehen sich, springen mit großer Intensität. Im Laufe der 100 Minuten variiert und steigert Charmatz die Energie der Bewegungen, macht sie härter und immer dringlicher. Damit einher geht eine Unruhe, die in Nervosität mündet. Bis hierhin gelingt es, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Danach wird aus dem archaischen Ritual ein lockeres, langatmiges Herumgerenne wie auf dem Schulhof. Erst mit den realen und elektrischen Glockenschlägen im zweiten Teil gelingen wieder einnehmende Bewegungsbilder. Die Künstler reagieren, als würden sie selbst zu schwingenden, taumelnden, torkelnden, hüpfenden und pulsierenden Klangkörpern – bis zur völligen Verausgabung.
Charmatz erschafft durchaus beeindruckende Momente und Bilder. Das gilt auch für die mit geöffneten Mündern agierenden Tänzer und Tänzerinnen im dritten Teil, stumme Schreie. Vielleicht ein Verweis an den Hunger in der Welt. Doch über weite Strecken wiederholt sich Manches. Das tieferliegende Problem des Stückes: Es berührt nicht. Denn so virtuos sie auch agieren mögen, die wenigsten Mitglieder des Ensembles – wie Bausch-Tänzer Michael Strecker – bewegen durch einen verinnerlichten Ausdruck. Die meisten verströmen aggressive Coolness. 100 Minuten können sehr lang sein.