Jens-Erwin Siemssens "Fliegeralarm" in Wilhelmshaven

Bombennacht

Jens-Erwin Siemssen: Fliegeralarm

Theater:Landesbühne Niedersachsen Nord, Premiere:29.10.2015 (UA)Regie:Jens-Erwin Siemssen

Neugierig scannt das eingemummelte Publikum den Himmel ab, wo sich der Mond in gruselromantisch grauem Nebelkleid präsentiert. „Fliegeralarm“ – schallt es in die Abenddämmerung. Aber kein Kriegssoundtrack wird zugespielt, nirgendwo explodieren Filmeffekte. Und obwohl das Konzept der folgenden Darbietung brutal schlüssig auf herzzerreißende Emotionalität angelegt ist, folgt auch keine Selbsterfahrungsperformance. Sondern kunstwilliges Dokutheater als Appell an die eigene Phantasie.

Bevor die letzten Zeitzeugen des 2. Weltkriegs aussterben, wird ihnen Mut gemacht, sich zu äußern. Erzählen, um Geschichte wachzuhalten. Es scheint inzwischen opportun, auch als Mensch aus Täterdeutschland vom Horror des Kriegs zu berichten, den die Alliierten unter der Zivilbevölkerung inszenierten. Das war lange tabu. Die Nachkriegsgesellschaft wurde ja vor allem durch Schuldgefühle zusammengehalten. Nachdem erst das Schweigen aller über die Verstrickungen in den Nationalsozialismus, dann das Schweigen der Männer über ihre Erlebnisse an den Kriegsfronten gebrochen wurde, lichtet sich nun das dröhnende Schweigen über der Heimatfront. Die Künstlergruppe „Das letzte Kleinod“ und die Landesbühne Nord nutzen die Gunst der Stunde, bringen menschliche und architektonische Zeitzeugen zusammen.

Noch 167 Bunker stehen in der zum deutschnationalen Kriegführen gebauten Stadt Wilhelmshaven. In einem Truppenmannschaftsbunker (T 750) auf der ehemaligen Kasernen-, zukünftigen Edelwohnanlage kommen Erinnerungen an über 100 Luftwaffenangriffe zur Aufführung. 15 Zeitzeugen hat Regisseur Jens-Erwin Siemssen dazu interviewt und das Material zu vier Monologszenen in einer begehbaren Aufführung kompiliert. Die Perspektive der Gesprächspartner wurde beibehalten, so dass Schauspieler Erwachsene spielen, die nach 70 Jahren die Bombennächte im Bunker memorieren. Momentaufnahmen, gefiltert durch den zeitlichen Abstand, aber noch emotional durchglüht, da nie verarbeitet. Gekonnt agieren die Darsteller an der Grenze zur Identifikation mit den namenlosen Kindern, von denen erzählt wird.

Das von Anna Rausch gespielte Mädchen liebt ihren einzigen Teddy, der muss immer mit, wird herzig bekuschelt – in Gestalt eines rostigen Rohres. Rausch findet damit zu einem Kinderspiel, das immer lärmender, aggressiver, hilfloser wird – wobei die brodelnde, in sich widersprüchliche Gefühlswelt des Mädchens aufgerissen und dann mit schützender Naivität wieder geschlossen wird: ach, wie lustig die Bänke doch bei der Detonationskakophonie schaukeln… der Betonklotz funktioniert als Indoor-Spielplatz. „Es wird alles gut – und wir siegen doch“ ist dann so ein Satz, bei dem nicht das Mädchen, sondern die Phantasie der Zuschauer zusammenzuckt.

In einem anderen Raum wird sachlich entsetzt von elendig verbrühten Menschen berichtet, die in Kellern zerstörter Häuser saßen und durch das Gemisch aus Brandbombenphosphor und Löschwasser geradezu zum Kochen gebracht wurden.

Die Regieidee, jedem Darsteller ein Metallobjekt als An- und Mitspielpartner zu spendieren, funktioniert bestens in den leeren Zellen der Betonwabe. Jeder idyllisierenden Äußerung, zum Beispiel beim Puppenspiel mit Schrott, wird so jedweder Trost genommen. Aus Luftdurchlässen wehen zudem unheimlich harmonische Kinderlieder. Eine von der Wand hängende Rohrinstallationen wird zum Vibrieren gebracht, Geschützfeuerkrach auf einem Spind getrommelt, an Metallschächte geboxt, mit Autofelgen geworfen – das ist die bedrückende Klangkulisse in diesem hallstarken Szenario. Das an sich gar nicht so bedrückend wirkt: ist doch alles top aufgeräumt, nur dezent verdreckt und kaum mit Spinnenwebereien geschmückt, sauber weiß getünchte Wände sind lediglich verziert mit Kritzeleien britischer Soldaten.

Da Siemssen die Figuren nie zu Charakteren entwickelt, Szenen eher phantasieanregend karg denn psychologisch anlegt und sie nicht auseinander herleitet, lediglich aneinanderreiht, wird weniger die ständig verbal behauptete „Angst“ spürbar als der ebenfalls betonte Stress, keine Zeit für Angst gehabt zu haben. Die Atmosphäre der Aufführung betont das alltägliche Pendeln zwischen Zuhause und Bunker: stets bereitstehende Koffer und eine Hab-Acht-Haltung. Auch nachts wird sich gar nicht mehr richtig ausgezogen, denn jeder muss jederzeit aufs Sirenensignal loslaufen können, mit letzter Kraft schnell rein in den Bunker. Wer zu spät kommt, steht vor dem Schriftzug: „Schott dicht“. Der prangt noch immer am Tor. Jetzt ist es geöffnet. Nach 60 Minuten erklären dort Theater-Jugendcluberer recht unspektakulär: „Der Krieg ist vorbei.“ Das Publikum schreitet in die Nacht – während am Eingang die nächste 25-köpfige Besuchergruppe empfangen wird: „Fliegeralarm“ schallt es herüber. Ein Schreckensruf, eine Aufführung: beides ohne Ausrufezeichen. Aber mit nachwirkenden Fragezeichen: Herantasten an eine traumatisierte Generation.