Bisweilen wirken die Körper so, als wären sie Teil eines Marionettenarrangements. Am zombiehaftesten fällt eine Szene auf, in der verschiedene Darstellerinnen und Darsteller an roten Fäden festgemacht sind, die vom Hintergrund der Bühne herreichen. Sie dringen hervor aus drei in die papierne Wand gerissenen Ausbuchtungen, die die sich mehrenden Risse im gesellschaftlichen Fundament pointiert symbolisieren. Wofür stehen am Kragen befestigten Bänder, unter deren Zug sich die Frauen und Männer winden? Wofür stehen deren bisweilen skurrile Verdrehungen und Verrenkungen? Gewiss für eine Welt, die nicht erst seit einem Virus den Menschen in eine Mechanik ökonomischer und politischer Prozesse eingefügt hat.
Rausch und Höhepunkt
Also: What’s next? Was macht die Zukunft aus? Ohne Letzterer die Offenheit zu nehmen, entwickelt der Choreograf Huy Tien Tran zuletzt eine lange Sequenz, die einem Meisterwerk gleichkommt, die einen packt und voller Wucht ist, die erhabenste Schönheit und zugleich bittere Ironie vereint. Denn nun lässt er sein ganzes Ensemble die Bühne regelrecht vibrieren. Virtuose Tanzende, allen voran Carlotta Squeri, Carla González und Davide Benigni, versammeln sich nun zu Maurice Ravels „Bolero“ – nach einem Duett zu Bachs Sinfonia Nr. 11 in g-Moll zweifelsohne der gigantische Höhepunkt dieses Abends. Während das Crescendo mehr und mehr Raum greift, gibt die Akrobatik ein heterogenes Bild zu erkennen. Sichtlich lotet das Ensemble die gemeinsame Bewegung aus. Denn sie wissen, dass eine globale Gesellschaft nur im gemeinsamen Takt funktionieren kann.
Und trotzdem scheren immer wieder Einzelne aus, lassen sich fallen oder sagen sich – vielleicht in der Sehnsucht nach Autonomie – von der Menge los. Die Musik führt zusammen, ist an Opulenz nicht zu überbieten, obgleich sich in diesem pathetischen Ereignis immer auch Zeichen des Vorbehalts offenbaren. Immer wieder schlagen die AkteurInnen in kniender Pose mit ihrer Hand hämmernd auf dem Boden. Oder sie deuten in pantomimischen Gesten ein synchrones Tastaturtippen an. Als Kehrseite des Zusammenhalts erweist sich somit der Gleichschritt. Selbst die Gesamtheit der Gruppe, die eine ungeheure Präsenz ausstrahlt, birgt ein kritisches Potenzial. Tran nutzt diese Formation ebenso dazu, um das beklemmende Bevölkerungswachstum zu thematisieren.
All dies steigert sich in einen wahren Rausch der Gefühle und Bilder und verbindet höchste Ausdrucksstärke mit Fulminanz, bis mit dem perkussiv-mächtigen Ende des nutzt „Boleros“ das Licht ausgeht und die Tänzerinnen und Tänzer noch einmal einsam die Dunkelheit des Raumes durchschreiten. What’s next? Wandel und Bewegung sind möglich, selbst in dieser Finsternis. Das Gute ist nicht verloren.