Foto: Szene aus „Sprung in die Leere“ am Musiktheater im Revier. © Pedro Malinowski
Text:Andreas Falentin, am 8. Oktober 2012
Yves Kleins blaue Flächen, die sogenannten „Monochrome“ kennt (fast) jeder. Dass die „Weltkarriere“ dieses Blau ausgerechnet in Gelsenkirchen begann, ist weit weniger bekannt. Auf Einladung des Architekten Werner Ruhnau schuf Klein vier gewaltige, natürlich blaue Schwamm- bzw. Gipsreliefs für das Foyer des 1959 eröffneten Hauses. Klein starb 1962, nur 34 Jahre alt, an einem Herzinfarkt. Schnell wurde er zum Mythos, in dessen Zentrum die besessene Suche nach Immaterialität genauso stand wie seine oft schalkhaften Provokationen, die sich gegen objektivierende Einordnung und ökonomische Bewertung von Kunstwerken richteten, für die Autonomie von Kunst stritten. Das Musiktheater im Revier hat nun anlässlich des 50. Todestages einen Kompositionsauftrag vergeben.
Zwei Inspirationsquellen prägen die Arbeit von Felix Leuschner und seinem Librettisten Reto Finger: das titelgebende Foto „Sprung in die Leere“, das Klein bei einem Sprung aus vier Metern Höhe zeigt, den er rätselhafter Weise ohne Blessuren überstand, und der Raum selber, das Foyer des Musiktheaters, dessen linker Teil komplett bespielt wird. Unter den Reliefs stehen Gerüste, die das Spiel räumlich gliedern. Vier Sänger durchmessen den Raum ständig, singen, schnalzen, sprechen, zerreißen Papiere, alles mit gleicher Leidenschaft. Der fantastische Opernchor – die Damen natürlich in Yves-Klein-Blau – fließt fast durch Raum und Publikum, ein vielbeiniger Organismus, und produziert faszinierend reine und gerundete Klangfragmente. Das Folkwang Kammerorchester steuert unter dem kundig koordinierenden Dirk Erdelkamp feine Flächen dabei, die sich mal in zarte Linien auflösen, selten auch die klumpige Ballung nicht scheuen. Das etwa 100-köpfige Publikum sitzt, mitten im Raum angeordnet, auf viel bewegten Drehhockern und fühlt sich wohl. Die Musik von Felix Leuschner und die behutsam bebildernde Anordnung von Ulla Theissen bringen den Raum tatsächlich zum Klingen und lenken den Blick nicht nur auf die Klein-Reliefs, sondern auch auf die fast unerhört schönen Proportionen des MIR-Foyers.
Aber, ach, der Künstler muss auch selber auftreten und von seinem Leben erzählen. Im grauen Straßenanzug führt er in Gestalt des guten Schauspielers Mark Weigel durch den Abend, als gedanklicher Überbau und narrativer Anker. In fünf Kapiteln will man sich dem Künstler nähern. Allerdings stellen sich die Worte vor Klang und Raum. Es entsteht ein monochromes Bild von Klein: vergrübelt, verbiestert fast, ohne Anflug eines Lächelns, ohne Schelmentum. Breiten Raum nimmt das Erschrecken über die Vaterschaft ein – der Sohn wurde zwei Monate nach Kleins Tod geboren. Yves Kleins Nachkommen sind mit dieser Darstellung offenbar nicht einverstanden und haben die Theaterleitung veranlasst, in einem vorab verlesenen Text die Fiktionalität des Librettos herauszustellen.
Und doch ereignen sich kleine Wunder. Da gibt es ein Streichquartett. Die Musiker stehen unter diesem unglaublichen Blau. Die Solisten dämmern, träumen drumherum auf grünen, sich mit dem Blau beißenden Liegestühlen. Im Hintergrund tröpfeln Choristen in bewusster Langsamkeit durchs Treppenhaus. Aus der Musik klingt spielerische, verspielte Sentimentalität, besessene, paradoxe Sehnsucht nach Kontinuität und Auflösung, ein echtes, von tiefer Melancholie grundiertes Lächeln. Mit Urkraft breiten sich die Töne im Raum aus. Vielleicht sind wir hier Yves Klein ganz nah. In jedem Fall ist es schade, dass das nur in vier Vorstellungen zu erleben ist.