Der Einstieg in Kagels Skandalstück, das bei der Uraufführung wegen Drohbriefen nur unter Polizeischutz veranstaltet werden konnte, gelingt mit diesem ersten Teil äußerst komödiantisch. In der Inszenierung, die aus drei Teilen besteht, bedienen sich die Luzerner einzelner Abschnitte aus Mauricio Kagels 466 Seiten langer Komposition. Insgesamt – so lautete die Vorgabe des argentinisch-deutschen Komponisten – soll das Stück die 100-Minuten-Länge nicht überschreiten. So ist es an der jeweiligen Regie, aus den hunderten Einzelaktionen des Werkes in nicht fest-gelegter Reihenfolge zu wählen. Dass das Team am Theater Luzern eine sehr passende Auswahl und ein gelungenes Arrangement der zur Verfügung stehenden Bausteine getroffen hat, wird in der Premiere von Minute zu Minute deutlicher. Von Anfang an gelingt es, mit den Darstellungen, den verrückten, grotesken und farblich akzentuierten Bildern sowie einem Ensemble, das sich selbst immer wieder aufs Korn nimmt, die Zuhörer auf die Kagel’sche Reise durch die Theaterwelt mitzunehmen.
Nach den kurzweiligen 19 Filmen aus den Containern hebt sich der Bühnenvorhang und es geht live im Theater weiter. Die zunächst leere, geradezu kahl wirkende Bühne füllt sich mehr und mehr mit Leben. Drei Sängerinnen werden von einer männlichen Gretel mit Probenzetteln versorgt, singen sich ein und staunen nicht schlecht, als hinter ihnen die gesamte Kostümerie an Kleiderstangen aufgefahren wird. Da schlüpft ein Sänger plötzlich ins tiefrote Carmen-Kostüm, deutet eine übertriebene Habanera-Arie an und wird von zwei Statisten angehimmelt. An anderer Stelle wird eine Sängerin zur Marienfigur mit goldener Sonnenkrone und könnte kaum heiliger ausschauen, als sie plötzlich ihre Bluse öffnet und den blanken Busen zeigt. Und gerade, als sich der Gedanke breit macht, dass also auch diese Inszenierung nicht ohne nackte Körper auskommen will, schießen Wasserstrahlen aus den Brüsten der Maria und offenbaren, dass diese nur aus Plastik sind. Das Publikum kommt aus dem Lachen kaum mehr heraus. Auch nicht, als einer der Darsteller den Hamlet geben will, jedoch kaum über „Sein oder nicht sein“ herauskommt, weil seine Kollegen lieber andächtig seinem „Übersetzer“ im Hintergrund lauschen, der nur „Bli bla blubb“ von sich gibt. Der unbeachtete Hamlet rastet aus, fragt sich und die Zuhörer, was das hier „eigentlich für eine Scheiße ist“.
Wie soll dieses Stück nur enden? Erneut gelingt dem Luzerner Team um Lydia Steier ein genialer Coup. Das Publikum wird auf den Vorplatz des Luzerner Theaters gebeten und folgt dem wie ein bunt gekleideter Ku Klux-Clan ausschauenden Chor, der eine Maria auf dem Thron sowie eine Miniaturversion des Theaters geleitet, in einer Prozession zur Franziskanerkirche. Dort geht es zum Ursprung des Theaters zurück. Lauschen die Zuschauer zunächst noch einer Art Mönchsgesang aus allen Ecken der Kirche, steigt das Ensemble, das nun von Tänzerinnen und Tänzern komplettiert wird, in ein Bacchusfest ganz im Stil des antiken Roms ein. Auf einem Laufsteg in der Mitte der Kirchenbänke feiern sie sich, ihre skurrilen Figuren und das Theater, dessen Miniatur-Nachbildung sie schließlich wie den Star bei einem Rockkonzert über ihre Köpfe weitergeben.
Mauricio Kagels „Staatstheater“ lässt in seiner Konzeption Inszenierungen in jede Richtung zu. Es könnte eine reine Parodie auf die Arroganz der Solisten und das Gehabe großer Opernstoffe sein. Doch zum Start des neuen Leitungsteams um die Intendantin Ina Karr mit Lydia Steier und Lars Gebhardt (Oper), Katja Langenbach (Schauspiel) und Wanda Puvogel (Tanz) bringt die Luzerner Aufführung bei aller Komik eine ganz andere Geste zur Geltung: „Wir lieben Theater!“ Die Hingabe, die ungezügelte Freude, mit der das gesamte Ensemble die Theaterwelt überspitzt, kann gar nichts anderes bedeuten und unterstreicht – vor allem nach so langer Corona-Pause – einmal mehr, wie sehr sie vermisst wurde: diese schöne schräge (Theater-)Welt.