Foto: Bernardo Arias Porras als "Märtyerer" in der Schaubühne Berlin. © Arno Declair
Text:Barbara Behrendt, am 2. März 2012
Zuerst sieht er aus wie ein ganz normaler Teenager, dieser Benjamin: blass, schlaksig, ausgewaschenes T-Shirt, die E-Gitarre schützend vor dem Bauch, das Gesicht ein unbeschriebenes Blatt. Aber den Schwimmunterricht hat er heute nicht etwa geschwänzt, weil er keine Lust hatte, oder aufgrund „unkontrollierbarer Erektionen“, wie seine Mutter besorgt vermutet, sondern weil er es satt hat, „mit benebelter Schwimmbrille zwischen die sich öffnenden Schenkel von Melanie zu starren“ – das verletze seine religiösen Gefühle. Was seiner Mutter eine originelle Ausrede scheint, wird zum handfesten Problem: Benjamin ist über Nacht religiös geworden, ein christlicher Fundamentalist.
Warum? Darauf gibt das neue Stück von Marius von Mayenburg, das zweite, das der Hausautor der Schaubühne selbst inszeniert, nur eine lapidare Antwort: die Pubertät eben, Sinnsuche, Frust, Unsicherheit mit den Mädchen, denen Brüste wachsen. In einer Mischung aus jugendlicher Rebellion und Hass auf die sinnentleerte Welt startet Benjamin seinen Kreuzzug gegen Lehrer, Mutter und Mitschüler, und zwar mit den finstersten Bibelversen im Gepäck: Männer, die bei Männern liegen, werden in der Hölle schmoren; die Frau hat zu schweigen in der Gemeinde; wer Vater und Mutter nicht hasst, der kann kein Jünger Jesu sein. Und sterben will er für Gott, vielleicht als Missionar in Afghanistan.
Mayenburg hat sich mit dem religiösen Extremismus eines der großen Konfliktthemen unserer Zeit vorgenommen – aber er schwimmt beim Versuch, eine schwarzhumorige Komödie daraus zu machen, doch sehr an der Oberfläche. Benjamin, aber auch seine Darwin-gläubige Biolehrerin, die ihn „mit den eigenen Waffen schlagen“ will und dabei ebenso fanatisch wird, der abgeklärte Sportlehrer, der sie mahnt, „vernünftig atheistisch“ zu bleiben, wirken arg holzschnittartig. Ihre Dialoge sind lustig, aber nicht erhellend. Dass ein Jesus-Jünger ein durchgeknallter Typ sein muss, ist im religionsunterrichtsfreien Berlin ja sowieso klar…
Immerhin: Mayenburg inszeniert leicht, mit Situationskomik und halbironischen musikalischen Sequenzen. Schön, wie sich die Schauspieler zum sakralen Chor formieren oder ein herzhaft kitschiges „Wonderful World“ beim Segen des braven Pastors singen. Überhaupt machen Bernardo Arias Porras (mit wildem Haar und Bart schon rein optisch die geeignete Jesus-Besetzung), Eva Meckbach als fanatische Biolehrerin, Robert Beyer, süffisant sexistischer Schuldirektor, Moritz Gottwald als „erster Lieblingsjünger“ und der Rest der Truppe ihre Sache gut. Der Abend plätschert dennoch dahin und bleibt allzu bequem konsumierbar. Wir sind alle ein bisschen Extremist – ist das alles? Muss jede entschiedene Sinnsuche gleich zur Freakshow werden? Wie sich am Ende ausgerechnet die Biolehrerin nach biblischem Vorbild Nägel in die Füße hämmert, ist zwar ein überraschend starkes Bild – und doch bleibt der Abend im Ganzen schmerzfrei. Der Autor leidet nicht mit seinen Figuren, er schaut auf sie herab.