Foto: Schnell vergeht die Zeit: ein grandioser Bo Skovhus in der Titelpartie © W. Hoesl
Text:Roland H. Dippel, am 11. Februar 2019
Schnell vergeht dieser Abend und der Applauspegel ist riesig für diesen Farbrausch von Bitternis, den Carlus Padrissa mit einem wenig optimistischen Blick ins Heute beendet. 85 Jahre nach der Entstehung scheint der Erfolgsdurchbruch dieser historischen Dokumentar-Zwölftonoper, an deren Textbuch sich Krenek in langer Detailarbeit zermürbte, einmal mehr in greifbarer Nähe. Eine glanzvollere, spannendere und in der ozeanischen Bilderflut bewegendere Produktion mit dem packenden Bo Skovhus im Zentrum scheint schwer denkbar, Aktionen wogen sogar ins Parkett wie Flut und Ebbe: Das Bewegungsensemble springt über die Sitzlehnen und Köpfe des Publikums, aber das deutsche Volk mauert vor dem Orchestergraben gegen Kaisers Karls V. Idee eines durch die gleiche Religion geeinten Europas. Dieses Volk im „Nebeltal der kalten Elbe“ will es anders und nutzt die Lutherische Konfession sofort zur nationalen Abschottung. Die visuelle Dialektik von La Fura dels Baus zeigt das verführerisch, denn nichts ist an diesem Abend so farbenfroh wie der deutschnationale Haufen. Das signalisiert aber gleichzeitig das Ende des harmonischen Wechselspiels der Formen und Symbole im gefährdeten Kaiserreich.
Kreneks Zwölftonoper ist kantabler, „gattungstypischer“ und deshalb leichter zugänglich als die fast zeitgleich entstandenen Werke Bergs und Schönbergs. Der Österreicher nutzte die im Kompositionsstudium bei Schreker erworbene Kunst der Orchestration und setzte im eigenen Textbuch dramaturgische Mittel der großen historischen Oper in eine befragende Rückblende. Die Lebensbeichte des Kaisers wird so zum prallen Bilderbogen Europas an der Schwelle zur Neuzeit und zu dessen kognitiven Erschütterungen durch die Reformation, die Kolonialisierung der Neuen Welt und die Gegenreformation. Karl V. ist am Ende ein vor der eigenen Fassungslosigkeit in den Tod fliehendes Fossil. Dem Schritt der Jesuiten zu einem mit Denken stabilisierten Religionsverständnis will er nicht folgen. Karls V. Tod ist auch der kulturelle Absturz einer Epoche. Das zeigt La Fura dels Baus beeindruckend.
Kein Wunder, dass Clemens Krauss, der Krenek zu dieser Oper anregte, 1934 vor einer Uraufführung dieses epischen Musikdramas an der Wiener Staatsoper zurückschreckte. „Karl V.“ gelangte erst 1938 am Neuen Deutschen Theater Prag zur Uraufführung. Nach 1945 gab es weitaus weniger Vorstellungen, als dieses Werk verdient. Es bleibt abzuwarten, ob die Münchner Neuproduktion nach der dortigen Erstaufführung 1965 die erwartete Initialzündung für die bessere Verbreitung sein wird. Wenn man das Ende des ersten Aktes als Länge empfindet, liegt das nicht an der Musik, sondern an der visuellen Sintflut durch die Aktionslust von La Fura dels Baus.
Das Kollektiv denkt nicht daran, die von Krenek gereihten Episoden in flockige Häppchen zu zwängen, sondern zieht die Zuschauer in einen visuell-choreographisch-symbolisch-allegorischen Strudel: Ein riesiges Menschenknäuel hängt in einem Netz über einem fast flachen Wasserbecken zwischen zwei beweglichen Spiegelwänden. Dieses Menschenmaterial durchsprenkelt den Raum wie Spermienköpfe: Ideologie, Kultur, Religion, gequälte Lust sind nur allzu vergängliche Schauplätze dieses Wetteifers der Mikroorganismen.
Karls Beichtvater Juan de Regla wird vom Mönch zum zeitlosen Moderator im humanistischen Spiel. Der Schauspieler Janus Torp, noch in Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule, bietet eine spannungsgeladene Balance zwischen objektivierendem Widerspruch und Emotion. Janus Torp und Gun-Brit Barkmin als Karls Schwester Eleonore sind neben Karl V. die einzigen durchgängigen Figuren unter vielen episodisch auftretenden mit großen Namen. Überhaupt ist es aufregend, wie das gesamte Ensemble eine packende Ebene zwischen Statuarik und psychischer Bewegung findet. Einfach ist das selbst für starke Persönlichkeiten wie Anne Schwanewilms (Isabella, Karls Gemahlin), Okka von der Damerau (Juana, Karls Mutter), Michael Kraus (Luther) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Bourbonen-Wüstling (Franz I.) nicht. Denn nur Karl V. ist eine tatsächlich alle stimmlichen Potenzen fordernde Partie. Trotz beträchtlicher Schwierigkeit wirken die anderen homogener und auch etwas flacher.
Immer wieder scheint Tizians „Jüngstes Gericht“ als überformte Bildprojektion und Höhepunkt zivilisatorischer Leistung auf. Den Figuren prägte Lita Cabellut in Analogie zu deren geistig-spiritueller Herkunft Bilder auf die Kostüme: Karl V. hat auf der Brust einen sich spektral Richtung Herz verlängernden astrologischen Tierkreis, der als riesige Projektion zwischen dem Kaiser und dem Spielraum eine Verbindung imaginiert. Der Puls von Musik und Bühne driftet mit Vorsatz auseinander. Fleischfarbenes Menschenmaterial ist dazu die Pigmentierung. Wie in der Malerei überlagern sich religiöse, symbolische und historische Sinnebenen: Franz I. von Frankreich steckt in einer phallusartigen Säule. Die Kaisermutter, ihrem jungen Sohn die Bitternis und Unvollkommenheit der Welt lehrend, bleibt ganz in Schwarz. Der im ersten Akt exzessiv beschleunigte dialektische Bilderbogen verlangsamt sich im Ideendrama des zweiten Aktes. Lässt man sich auf das existenzielle Niveau dieser Szene ein, wird die Konfrontation zwischen Karl V. und dem Jesuiten Francisco Borgia zum Höhepunkt des Abends. Scott MacAllister setzt seinen amerikanischen Akzent zur mephistophelischen Charakterisierung dieses Parts ein.
Die Rollendurchdringung von Bo Skovhus als Karl V. ist eine Spitzenleistung dieser Spielzeit überhaupt. Für den extrem langen Part entwickelte Bo Skovhus ganz eigene Parameter von Dialog, gesungener Deklamation und der von ihm mit rezitativisch grundierter Phrasierung angegangenen Melodik. Ein Rollenporträt, neben dem Wozzeck, Mathis der Maler und Busonis Faust wie musikdramatische Etüden wirken. Der Bariton nutzt den Vollbesitz stimmlicher und dramatischer Ausdrucksmittel zu einer vokal noch stärkeren Differenzierung neben dem radikalen körperlichen Einsatz.
Krenek lässt seinen Interpreten kaum Möglichkeiten zu vokalen Schaubuden-Tricks, weil er seine Partien meistens in der zentralen Mitte ihrer Stimmlagen hält, Berg und Schönberg fordern weitaus drastischere vokale Extreme. Das Bayerische Staatsorchester und der von Stellario Faggone einstudierte Chor der Bayerischen Staatsoper haben unter Erik Nielsen einen wichtigen Anteil an dem musikalisch großartigen Abend. Sie machen deutlich, dass Krenek in der Wahl seiner kreativen Mittel heute unterschätzt wird. Erik Nielsen zeigt wie schon vor kurzem Stefan Lano bei Kreneks „Jonny spielt auf“ am Nationaltheater Prag, dass Etiketten wie „Jazzoper“ oder „Zwölftonoper“ bei Krenek kraftlos und deshalb nichtssagend sind. Mit keinerlei Scheu vor Bildungsüberfrachtung erbringt die Bayerische Staatsoper den Beweis, dass „Karl V.“ kreativ bestens modellierbares Spielmaterial ist. Lexikalisch trocken bleibt nur der Beginn, wenn Mechthild Großmanns Stimme zur minutenlangen Litanei der Adelstitel von Karl V. ausholt. La Fura dels Baus löst dann mit dem stimmigen Ensemble die monumentale Schwere auf im visuellen Rausch. Doch wäre es falsch, die intensiv recherchierte Fülle als Oberflächlichkeit misszuverstehen. Es erhöht die Spannung enorm, wenn das Gestrüpp europäischer Geschichte für Zuschauer ebenso undurchdringlich bleibt wie für den sterbenden Kaiser Karl V. selbst und die exzessive Lust am Bildertheater über den Anspruch matten Bildungstheaters triumphiert.