Foto: Ines Schmiedt und Tobias Ulrich in "Jagdszenen aus Niederbayern" am Landestheater Niederbayern. © Peter Litvai
Text:Christian Muggenthaler, am 2. Mai 2011
Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ sind auch 45 Jahre nach ihrer Uraufführung eine handfeste Tracht Prügel für das Publikum. In der Szenenfolge lauern Zorn, Gewalt und Hass. Das Stück aus der Zeit der Wiederentdeckung des kritischen Volkstheaters drischt in seiner kalten, analytischen Wut heute noch drein wie einst in den Spät-60ern. Denn die dort angeprangerte Tendenz von Gemeinschaften, sich mit Vorliebe im Aufspüren, Ausgrenzen und Abwerten alles Andersartigen zu finden, ist ein zeitloser Übelstand. Vordergründig geht es um ein niederbayerisches Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Leute wie der homosexuelle Abram, der geistig zurückgebliebene Rovo und die zur Hure erklärte Tonka ihre Randständigkeit grausam zu spüren bekommen. Tatsächlich aber liegt hinter Sperrs bitterbösem Dorfrealismus die Beobachtung, dass jeder Mensch große Brocken seiner Moral opfern muss, wenn er auf der richtigen Seite stehen will. Bei Sperr verrät gar die Mutter, unter sozialen Sanktionen bitter leidend, ihren schwulen Sohn, um endlich dazuzugehören.
Wer also Sperrs genial hingeknalltes, zupackendes Erstlingswerk, in dem die Boshaftigkeit der Leute nahezu unbegrenzt ist, in den Griff bekommen will, muss ebenfalls kräftig zupacken und sich entscheiden können, wo es lang gehen soll. Und genau hier liegt das entscheidende Problem der aktuellen Inszenierung des Stoffs am Landestheater Niederbayern in Landshut: Regisseur Markus Bartl kann sich nicht für einen Weg entscheiden, und so schlingert seine Inszenierung zwischen dem prallen Naturalismus der Dorfgeschichte und dem Versuch distanzierter Gesellschaftsanalyse hin und her. Diese Unschärfe geht zu Lasten der Protagonisten und ihrer gegenseitigen Beziehungen, die wenig Raum gewinnen. Am deutlichsten bemerkbar ist dieser Mangel an Prägnanz in den entscheidenden Momenten, etwa im Grundkonflikt zwischen Abram und seiner Mutter Barbara: Beide erklären zwar, wo genau sie zwischen Außenseitertum und Dazugehörenwollen stehen, aber all ihre seelischen Nöte und Untiefen, Triebmittel und Motoren des Stücks, bleiben hinter derlei Statements verborgen.
Dass die „Jagdszenen“ in Niederbayern trotzdem dann und wann genau dort hin gehen, wo es wirklich weh tut, liegt an vielen guten schauspielerischen Leistungen in den weniger bedeutungsbehangenen Nebenrollen. Der grüblerische Totengräber und Metzgergehilfe Knocherl (Moritz Katzmair), die Metzgerin als hochgiftige Moralspinne des Orts (Josepha Sophia Sem), die Tagelöhnerin Zenta (Katharina Elisabeth Kram) und der Knecht Georg (Reinhard Peer), die als Untergebene am dumpfsten und gröbsten alle Unterdrückungsmechanismen annehmen und bestärken: Von den Rändern aus entsteht in der Landshuter Inszenierung jenes Bild, das Sperr entworfen hat, das Bild einer Menschengruppe als Hütegemeinschaft, die alles zusammenbeißt, was den Kopf herausstreckt. Einmal rast Georg, stockbesoffen und in blinder Wut über das Leben, das er führen muss, über die Bühne und scheißt schreiend und lachend Blutwürste. Krass und wüst sind die Leute in Sperrs Welt, und von dort aus ist die fast archaische Grausamkeit seiner Szenen am besten zu verstehen.