Foto: „Heldenplatz“ in Salzburg, hier: Aaron Röll, Patrizia Unger, Elisabeth Rath, Britta Bayer und August Zirner. © Anna-Maria Löffelberger
Text:Michael Laages, am 7. Februar 2021
Wie eine Art Totenmaske passte Thomas Bernhard dieses Stück der Lebens- und Sterbensgeschichte einer jüdischen Wiener Familie an; und da er selbst zur Zeit von Niederschrift, Proben und Uraufführung durch Claus Peymann 1988 am Burgtheater schon todkrank war, zeichnete er mit „Heldenplatz“ auch ein Abbild von sich selbst als Sterbendem – auch darum weht so viel Abschied durch den Text. Alexandra Liedtke, Jahrzehnte nach Autor und Uraufführungsregisseur auch nach Wien gekommen, aus Bochum und über Zürich, nimmt das Endspiel, also das Spielen, bis der Tod kommt, sehr ernst – und lässt Thomas Bernhards letztes Wort in der Online-Premiere am Salzburger Landestheater wie in einer Gruft beginnen.
Frau Zittel, die treue Haushälterin vom Professor Schuster, und Hausmädchen Herta verpacken gerade die Garderobe des Mathematikers und Philosophen, der sich zum 50. Jahrestag vom Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland aus dem Fenster gestürzt hat, direkt hinunter auf den Wiener Heldenplatz, wo im März 1938 die Wienerinnen und Wiener in unübersehbarer Menge nach ihrem neuen Führer geschrien hatten und Adolf Hitler bejubelten, als er mit ihnen den „Anschluss“ feierte. Schusters letzter Akt war das im eigenen Leiden an dieser 50 Jahre alten Erinnerung. Am Ende des Stückes wird Ehefrau Hedwig ihm folgen – ihr dröhnt seit Jahren immer wieder das begeisterte Geschrei der Wiener Nazis im Ohr, auch jetzt, beim Leiche-Suppen-Schmaus für den verstorbenen Gatten. Zu Beginn wird aber zunächst Schusters Geschichte aufgeblättert: das Exil in Oxford, nach dem Krieg dann die von höchsten Stellen erbetene Rückkehr nach Wien, jetzt die Sehnsucht, wieder in die englische Universitätsstadt zu ziehen – besser: dorthin zu flüchten. Der Professor ahnte, dass daraus nichts werden würde. Und die unübersehbaren Mengen an weißen Oberhemden, die Frau Zittel und Herta aus bühnenhoch-monströsen Regalen bügeln, korrekt zusammenfalten und in Umzugskartons packen, werden auch nie über den Kanal reisen; nur nach Neuhaus, aufs Landgut der Familie. Das Haus in Oxford soll längst verkauft werden.
Ziemlich hölzern und kompliziert ist diese Eröffnung geschrieben; erst Eva Musils Bühne gibt ihr Form im Landestheater: durch die unermessliche Höhe (und also absurde Tiefe) dieser Wäschezimmergruft. Die übermäßig großen Fenster werden sich im Finale wiederfinden – im „Speis‘-Zimmer“ nebenan, wo die Umzugskartons vom Beginn als Sitzgelegenheiten herhalten müssen beim Suppe-Fassen; und auch einer – jaja, natürlich – zusammenbrechen muss. Das Trauerspiel ist bei Bernhard bekanntlich immer auch eine Komödie, und wenn die Frau Professor dem Herrn Professor nachstirbt, mit der Nazi-Hysterie vom Heldenplatz damals in den Ohren, fällt sie mit dem Kopf in den Suppenteller.
Neben den toten Professor stellt Bernhard dessen Bruder ins Zentrum – und das ist tatsächlich und gut erkennbar eine Art Alter Ego des Autors. Robert Schuster, der kluge, analytische Kopf, versteht vollkommen, dass das Nazi-Erbe nicht vergangen ist, nicht in Wien, nicht in Österreich, nicht in Deutschland – im tiefsten Innern warten alle auf den neuen Führer; nicht nur die 20 Prozent des deutschen Wahlvolks mit geschlossen-rechtsradikalem Weltbild, von denen immer wieder zu hören und zu lesen ist. Aber der Schuster-Bruder hat den Kampf eingestellt; nicht mal mehr die Durchgangsstraße in Neuhaus will er verhindern helfen, die den Garten des eigenen Landguts zerstören wird. Nichte Anna streitet gegen die ökologische Untat, er nicht. Auch Olga, der anderen Nichte, kann er nicht mehr helfen – obwohl er besser als sie selber weiß, dass ihr Angespucktwerden auf der Straße nur dem Umstand geschuldet ist, dass sie Jüdin ist.
Diesem großen Untergeher, diesem letzten Selbstporträt, gibt Bernhard sehr viel finstre Weisheit und Erkenntnis mit auf den Weg – August Zirner spielt ihn in Salzburg. Und das ist Ereignis, weil Zirner diesen Schreckens- und Erschreckens-Geist so verblüffend leicht und ohne alle Last in dieses Spiel vom Sterben stellen kann – als wolle er, Zirner, gleich die Flöte auspacken (er ist ja auch ein sehr besonderer Musiker!) und zum Abschied ein Menuettchen spielen; oder einen Bye-bye-Song von Benny Goodman.
Zirner trägt – mit Julienne Pfeil und Genia Maria Karasek als Nichten zur Seite und doch fast allein – den zentralen zweiten Akt; im dritten, wenn die kleine Suppen-Gesellschaft sich an den Tapeziertisch und auf die Kartons setzt, nimmt auch schon der Autor den eigenen Helden zurück; und auch Bernhard selbst verzettelt sich merklich in Nebenhandlungen. Aber Frau Schuster, Witwe des Toten und Robert Schusters Schwägerin, hat den großen Sterbe-Auftritt mit dem Nazi-Geschrei im Kopf – in dieser Rolle ist Elisabeth Rath in Salzburg zu Gast, die neben Kirsten Dene eine der Nichten war in der Uraufführung vor gut 32 Jahren.
Wie so oft bei Bernhard verrutscht in diesem Finale der Fokus ein wenig, und das ist wieder dem Komödiantischen geschuldet – aber Liedtkes Inszenierung kann sich jetzt wieder auf Musils hohe Fenster verlassen, auf das Unermessliche im Bild, das auch noch dem Komödien-Palaver Abgrund verpasst.
„Heldenplatz“ ist auch mit dem Abstand von heute aus nicht zu Bernhards bestem Text gereift; aber Alexandra Liedtke hat mit dem Salzburger Ensemble und den Gästen eine sehr überzeugende Erinnerung beschworen – an den Autor, der in diesen Tagen 90 Jahre alt geworden wäre, an eine Uraufführung, die Bernhards dumme Gegner zum „Skandal“ aufmöbelten, und natürlich an Thomas Bernhards ewiges Thema: die Schuld, die nicht vergeht, und das Erbe der Schuldigen, das wächst und wuchert und gerade jetzt wieder so schrecklich unzerstörbar scheint.