Foto: „Ein Stück Musiktheater“ am Dutschen Theater: (v.l.n.r.: Cordelia Wege, Elias Arens, Linda Pöppel, Niklas Wetzel und Anja Schneider) © Arno Declair
Text:Andreas Falentin, am 7. September 2022
Der erste Blick überwältigt. Sebastian Hartmann hat eine Art rudimentäre Spirale auf die Bühne des Deutschen Theaters gestellt – oder eine Schnecke, deren abstrahiertes Haus oben offen ist. Das Objekt kann um sich selbst rotieren und zeigt dabei scheinbar immer neue Rundungen und aus der Spitze, dem Kamin, scheint Nebel aufzusteigen wie aus einem Vulkan. Zu Beginn sehen wir minutenlang diesem Objekt bei der Bewegung zu, begleitet von intensiven und entspannten Electro-Sounds, erzeugt vom Komponisten PC Nackt himself an diversen Tasten- und Earl Harvin an noch mehr Perkussionsinstrumenten.
Irgendwann kommen auch Menschen auf die Bühne, drei Damen (Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege) und drei Herren (Elias Arens, Felix Goeser, Niklas Wetzel). Sie kommen zunächst in Schwarz. Ihre Kopfbedeckungen, ihr Make-Up lassen an expressionistische Filme denken, an „Warten auf Godot“ und an die Bildwelten eines René Magritte. Immer wieder werden sie die Kostüme wechseln, die ihnen Adriana Braga Peretzki sehr attraktiv auf die Leibe geschneidert hat. Später werden diese auch auf Unterhaltungskunst, auf Varieté und Musical anspielen.
Visuell ist dieser Abend beeindruckend komponiert. Die Metamorphosen, die die Bühnenbildspirale und die Körper der Schauspieler:innen durchlaufen, gerinnen immer wieder zu kostbaren Bildern, an denen die Live-Kamera-Arbeit von Dorian Sorg, das Licht von Lothar Baumgarte und die 3-D-Animationen von Tilo Baumgärtel großen Anteil haben.
Sobald allerdings Sprache dazu kommt, beginnt die Irritation. Nicht, weil gesungen wird. Schließlich ist der Abend als „ein Stück Musiktheater“ angekündigt, war ursprünglich sogar mit dem Etikett „Musical“ versehen. Das erste Problem ist ein akustisches: Man versteht den häufig im Ensemble gesungenen Text oft nur ansatzweise und ist dann sogar dankbar für die vielen Wiederholungen (irgendwann hat man es dann). Aber der Versuch, Bild und Text zusammenzubringen, erweist sich als mühsam. Was natürlich auch an der Natur der Vorlage liegt.
Das absolute Ich
Kennen Sie Max Stirner? Ich gestehe gerne: Mir war er bis zur Ankündigung dieses Theaterabends vollständig unbekannt. Sein 1845 veröffentlkichtes Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“, übrigens sein einziger längerer Text, entfaltet auf über 400 Seiten mit unzähligen Details und aus etlichen Blickwinkeln den einen, wiederkehrenden Hauptgedanken. Für Stirner ist der Mensch nur dann frei, „Eigner“ seiner selbst, wenn er radikal seinem eigenen Nutzen verpflichtet lebt und sich vor allem keinerlei Doktrin beugt, womit nicht nur Religion, Machtpolitik und wirtschaftlicher Druck aller Art gemeint sind, sondern auch Gesetz und Moral, überhaupt alle sozialen Bindungen.
Natürlich ist Max Stirner kein Mörder aus Überzeugung. Man muss seinen Text als radikale Denkfigur begreifen, als kritisches Aufgreifen der Diskurse in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein sich Reiben an Texten und Traktaten beispielsweise von Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer. Hier wurden Gedankenexperimente möglichst extrem und stringent ausformuliert, um gesellschaftliche Prozesse in Gang zu bringen. Eine kurzfristige Wirkung mag die sogenannte Revolution von 1848 gewesen sein. Langfristig prägte diese vielstimmige geistige Akrobatik sicher teilweise auch unsere heutige parlamentarische Demokratie. Was aber kann uns Max Stirner heute auf der Theaterbühne sagen?
Diese Fragestellung interessiert Sebastian Hartmann offenkundig nur bedingt. Seinen Umgang mit „Der Einzige und sein Eigentum“ beschreibt er selbst im Programmheft als „Destillationsprozess des textlichen Reichtums (…), auch eine Genauigkeit im Hinsehen, in der Hoffnung, dass sich das Theater dann anders in Richtung Publikum überträgt.“ Er bricht also Brocken aus dem Traktat, musikalisiert sie und erfindet Bilder. Dabei gelingen große, eindrückliche Momente,vor allem in gesprochenen Monologen, aber auch im existenziellen Kampf von Cordelia Wege in einem mit Wasser gefüllten Glassarg oder bei dem fast schmerzhaften Verschwinden von Niklas Wetzel im immer lauter werdenden Geräusch eines Bienenschwarms. Überhaupt die Bienen: Sie erscheinen immer wieder, vor allem im zweiten Teil des knapp zweistündigen Abends und dienen offensichtlich als Antithese. Ist der Bienenstaat doch eine Ansammlung funktionalisierter Existenzen, von einer Königin beherrschter Nicht-Ichs.
Imitation, Ironie, Statik
Diese beiden Pole, Stirner und Biene, könnten ein Spannungsverhältnis exponieren. Die Radikalität von Stirners Gedanken könnte, sollte vielleicht, allein durch die Penetranz der Wiederholungen eine Dynamik in Gang setzen. Aber beides scheint nicht gewollt. Die Binnenstruktur im Ensemble ändert sich nicht. Sie treten in Gruppen oder gemeinsam auf, werden nie Figur, bleiben immer Schauspieler oder Schauspielerin, jede:r hat sein dankbares, brillant ausagiertes Solo. Sie treiben nicht auseinander oder rücken enger zusammen, es gibt keine Reibungen oder feste Gruppenbildungen, keine Uniformierung, keine Vereinzelung. Der Inhalt mündet nicht in ein Spiel. Fast wirkt es, als wäre der, allerdings nie wütende, Widerstand gegen den selbst gewählten Gegenstand ein Hauptthema der Aufführung. Und das erscheint dann doch als ein wenig kraftlose Kopfgeburt, als wie schön auch immer bebaute Sackgasse. Zumal die Musik von PC Nackt zwar ein großartiges Effektgerät ist und etliche zeitgenössische Klangidiome perfekt nachbaut – aber auch keinerlei Struktur schafft, weder rhythmisch noch melodisch noch gar inhaltlich. Und da auch die musikalischen Fähigkeiten der Mitwirkenden zumindest nicht überwältigend sind, bleibt oft nur der Weg in die Ironisierung. Wobei nie ganz klar wird, was hier eigentlich gebrochen werden soll. Der Text von Max Stirner kann es ja nicht sein, seine Abseitigkeit liegt offen zutage. Klar wird: man setzt sich ab – von gefühlsgetriebenem Theater, vom Unterhaltungstheater, vom narrativen Theater. Bekennend postdramatisch eben.
Aber wo führt das hin? Bin ich am Ende der Aufführung anderswo als an ihrem Anfang? Hatte ich, als Zuschauer, irgendeine Form von Begegnung? Ich glaube, ich habe nur auf brillant erfundene Bilder geschaut, die mir und meiner Lebenswelt ferngeblieben sind. Ich wünschte, es wäre anders.