Foto: Wolfgang Rihms "Hamletmaschine" in Sebastian Baumgartens Inszenierung. © T+T Fotografie/Tanja Dorendorf
Text:Georg Rudiger, am 24. Januar 2016
Glatte Haare, hohe Stirn, strenge Hornbrille. Eine Zigarre in der Hand. Das ist Heiner Müller. Auf der Bühne des Opernhauses Zürich sind bei Wolfgang Rihms Musiktheater „Die Hamletmaschine“ (1987) gleich drei Heiner Müllers zu sehen. Die Schauspieler Matthias Reichwald und Anne Ratte-Polle sowie der Bariton Scott Hendricks, der die anspruchsvolle Gesangspartie dieser Schweizer Erstaufführung mit Bravour meistert. Eigentlich stehen drei Hamlets in Wolfgang Rihms Partitur, die Heiner Müllers Text aus dem Jahr 1977 vertont. So möchte der Komponist die Zerrissenheit des Dänenprinzen zeigen – und durch die Aufspaltung der Figur in mehrere Personen auch dessen Handlungsunfähigkeit vor Augen führen. Müllers sperriger, rätselhafter, verschachtelter Text enthält viele autobiographische Bezüge. Nicht nur im Staate Dänemark war etwas faul. Auch der Schriftsteller litt unter den herrschenden Verhältnissen in der DDR. Ganz konkrete Ereignisse wie der niedergeschlagene Ungarnaufstand von 1956 oder der Selbstmord seiner Frau („Die Frau mit dem Kopf im Gasherd“) finden sich in seiner „Hamletmaschine“ wieder. Deshalb ist die Grundidee des Regisseurs Sebastian Baumgarten, statt der Hamlet-Figuren Heiner Müller selbst auf die Bühne zu bringen, stimmig. Die Präsenz der Akteure, ihr körperliches Spiel, die Auslotung der Extreme (ein theatralisches Ereignis: Anne Ratte-Polle) schlagen Schneisen in das wuchernde Assoziationsgestrüpp und sorgen für eine klarere Fokussierung der theatralischen Situationen.
Seit der Hamburger Produktion von 1990 wurde das Grenzen auflösende Musiktheater Rihms nicht mehr gespielt. Nach der Uraufführung in Mannheim 1987 kam es nur noch wenige Wochen später auch am Freiburger Theater auf die Bühne. Gabriel Feltz lässt nun am Pult der Philharmonia Zürich die Spannungen explodieren, gewährt aber auch die darauf folgenden Atempausen und Schrecksekunden. Rihms Musik changiert zwischen spannungsvollen Liegeklängen im Chor und Orchester und plötzlichen Schlagzeugattacken, zwischen Beruhigung und Panik. Das Lyrische wird immer wieder zerschlagen, zerknallt, zerfetzt. Dafür stehen den sechs Schlagzeugern unter anderem Metallplatten, Vorschlaghämmer, sechs Tam-Tams und zwei Schreckschuss-Pistolen zur Verfügung. Die Musiker sind auf der Bühne, den beiden Proszeniums-Logen und dem zweiten Rang postiert, was einen echten Surround-Klang ergibt und die Theatralik von Rihms Musik eindrucksvoll verstärkt. Trotz der Klangmassen schafft Feltz eine große Transparenz, die die gute Textverständlichkeit der Akteure fördert. Die Blecheinsätze sind gestanzt. Die Streicher sorgen nicht nur bei Rihms Händel-Allusionen für ein wenig Kitt in der schroffen, brüchigen Klanglichkeit. Nicola Beller Carbone entfaltet als vielschichtige Ophelia mit ihrem tragfähigen dramatischen Sopran die Dominanz, die Rihm von ihr im letzten Bild fordert. Sie kann Opfer und sie kann Rächerin. Scott Hendricks (Hamlet III) ist ähnlich ausdrucksstark. Nur in der Tiefe verliert der amerikanische Bariton an Gestaltungsmöglichkeiten.
Zu Beginn des eineinhalbstündigen, ohne Pause gespielten Abends zeigt eine Videoprojektion eine italienische Fähre, auf der Flüchtlinge und Helfer in Schutzanzügen zu sehen sind. Der stählerne Bühnenraum von Barbara Ehnes erinnert an einen Schiffsrumpf (Video-Design: Chris Kondek). Baumgarten wählt konkrete Bilder, um die fragmentarischen, grotesken Szenen historisch zu verorten. Im zweiten Teil macht der Regisseur aus Ophelia Ulrike Meinhoff und ruft das RAF-Gefängnis in Stuttgart-Stammheim in Erinnerung. Im dritten findet sich Heiner Müller in Andy Warhols New Yorker Factory wieder, wo er auf die westliche Partygesellschaft trifft und vom Kapitalismus verstört zurückgelassen wird. Das DDR-Sandmännchen zeigt im Video zum großen Schlagzeug-Crescendo des Orchesters den Stinkefinger, bevor der Züricher Chor im vierten Teil mit Pegida-Kreuz und Baseballschlägern für Aufruhr sorgt. So gut manche Bilder im einzelnen funktionieren – sie hinterlassen kaum Spuren im weiteren Verlauf das Abends. Die zu Beginn prominent gestellte Flüchtlingsfrage wird, abgesehen von einer Europa-Tischdecke und den Pegidas, nicht mehr aufgegriffen. Auch fehlt es an Zuspitzung, um zu verstören, und an Prägnanz, um zu verfangen. Mit Guantanamo wird im vierten Teil nochmals ein neues Fass aufgemacht. In Zürich quälen die weiblichen Häftlinge in den orangefarbenen Anzügen ihre schreienden Wärter (Kostüme: Marysol Del Castillo).
Ein richtig großer Wurf ist der Abend nicht. Dennoch gelingt dem Opernhaus Zürich mit Rihms „Hamletmaschine“ ein szenisch respektabler, musikalisch hochspannender Musiktheaterabend, der zwar nicht lange, aber heftig bejubelt wird. Und der sichtlich zufriedene Wolfgang Rihm verteilt Kusshändchen.