Foto: Die Schaubühne von innen, ohne Raumteilung oder Bestuhlung © Siegfried Büker/Schaubühne
Text:Andreas Falentin, am 17. April 2020
Ja, das Bild besteht nur aus Grautönen, die Konturen sind nicht immer scharf und gerade gegen Ende bekommt das Bild immer wieder Laufstreifen. Und doch ist diese Aufführung aus dem Jahr 1966 (die zweite des Stückes nach der Bremer Inszenierung einige Monate zuvor) eine theaterhistorische Kostbarkeit. Mit seiner vom Krieg traumatisierten, durch Verdrängungsmechanismen in sich und beeinander gefangenen Dorfgesellschaft ist Martin Sperr seinerzeit ein grausiges Zerrbild der deutsche Nachkriegsgesellschaft gelungen. Man riecht förmlich Fassbinder, Kroetz und Turrini, die das, was Sperr begonnen hat, weitergesponnen und verfeinert haben.
Abram ist kein Einheimischer. Und er ist schwul. Was unter Strafe steht. Er versucht sich anzupassen, schläft mit dem leichten Mädchen des Dorfes und die bezichtigt ihn, Vater ihres ungeborenen Kindes zu sein. Und Abram wird beobachtet, als er neben Rovo sitzt, dem zurückgebliebenen Sohn einer Bäuerin, dessen Vater im Krieg gefallen ist. Eine Hexenjagd beginnt. Abram dreht, mit der möglichen Vaterschaft konfrontiert, durch und ersticht die hübsche Tonka im Affekt. Sozusagen aus Ausweglosigkeit. Das Dorf jagt ihn, um sich die Belohnung zu verdienen und davon die orgel in der Kirche zu reparieren.
Hagen Müller-Stahl und Wolfgang Schwiedrzik inszenieren das, es ist wohl nicht zuviel gesagt, geradezu revolutionäre, umgedrehte Volksstück lapidar. Vor einer grauen Wand tauchen einzelne Versatzstücke auf, die auch schon mal unheilvolle Assoziationsräume öffnen. So lässt gleich im ersten Bild die Kirchentür durchaus an einen KZ-Verbrennungsofen denken. Bemerkenswert ist der reduzierte Stil, mit dem gespielt wird, ein Minimalismus. Der Künstlichkeit schafft, weil nur sparsam illustriert, der Fokus auf die oft fast redensartlichen Dialoge und die inneren Verhärtungen der Figuren gelegt wird. Das mit hervorragenden Schauspielern bayrischer und österreichischer Herkunft besetzte Ensemble (Ruth Drexel, Axel Bauer, Enzi Fuchs, Olga von Togni, Veronika Fitz, Richard Haller) hält das sehr klar und diszipliniert durch. Dass sie alle ein Ventil für ihre sozusagen tröpfchenweise austretende Aggressivität suchen, ist klar. Sie finden es eben in Abram (Dieter Kirchlechner) und en passant auch in Rovo (der damals 22-jährige Autor Martin Sperr, der in der Verfilmung von 1968 selbst den Abram spielte), der sich nach Abrams Verhaftung umbringt.
Aus heutiger Sicht ist das ganze vielleicht kein großes Theaterereignis, aber man bleibt die 80 Minuten wach vor dem Bildschirm – und erlebt einen echten, wenn auch mit Distanz servierten Horrortrip in die deutsche Nachkriegszeit und -kultur. Derartige Kostbarkeiten dürften gerne auch in Post-Corona-Zeiten ab und an Interessierten zur Verfügung gestellt werden.