Foto: "Ich habe nichts zu verbergen - Mein Leben mit Big Data" am Schauspiel Essen. Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug, Jan Pröhl © Martin Kaufhold
Text:Stefan Keim, am 4. Oktober 2015
Rechercheprojekt
Eine Sitcomfamilie streitet sich. Mutter (Ines Krug) dreht fast durch, der fette Vater (Daniel Christensen im schwabbeligen Bodysuit) ist ein Visionär des Internets und nach dem real existierenden Jaron Lanier benannt. Er beschäftigt sich am liebsten mit Baby Big Data, einem Riesenkind im rosa Strampelanzug. Alle Sinneseindrücke erfasst es in Windeseile in Form binärer Daten und sucht im weltweiten Netz nach ähnlichen Bildern. Tochter Lisa fühlt sich vernachlässigt und lässt sich in ihrer Einsamkeit von einer niedlichen blonden App (Raphaela Möst) trösten. Die heruntergeladene Anwendung sieht so aus, wie sich Lisa ihre beste Freundin vorstellt. Kein Wunder, denn die App weiß alles über Lisa.
Wer online einkauft oder sich in sozialen Netzwerken bewegt, gibt mehr über sich preis, als er denkt. Hermann Schmidt-Rahmer und das spielwütige Essener Ensemble zeigen, wohin sich die schöne neue Onlinewelt entwickeln wird. Oder sich bereits entwickelt hat. Da gibt es zum Beispiel ein Programm namens Badge Dataset, das die Bewegungen und Gespräche, die Tonfälle, Stimmlage und Körperhaltungen aller Mitarbeiter eines Büros analysiert. Heraus kommen exakte Ergebnisse, wie effizient die Einzelnen arbeiten und was die Gründe dafür sind. Die totale Überwachung ermöglicht ein perfektes Leben, das ist der Plan. Wenn sich ein Mann mit nicht ganz idealem Bodymassindex (Thomas Büchel) einem Verkaufsautomaten mit Süßigkeiten nähert, warnt ihn sein Onlineprogramm schon, wenn er noch einige Meter entfernt ist. Privatsphäre war gestern, Datenschutz ist nur ein netter Witz.
Natürlich lässt sich auch eine Theateraufführung auf diese Weise optimieren. Die Kamera fängt einen Zuschauer ein, und der Schauspieler Jan Pröhl versucht, sein Spiel genau auf die Bedürfnisse dieses Herren einzustellen. Er lacht und weint, brüllt und flüstert, nichts bringt das gewünschte Ergebnis. Das Publikum will – so verkünden die Schauspieler – eine Handlung, ein realistisches Bühnenbild, keine Ironie. Also spielen sie ein Sozialdrama, das erst schwer in Gang kommt und dann überraschenderweise wirklich berührt. Tochter Lisa (Lisa Heinrici) überwacht ihre kranken Eltern per Badge Dataset und wird fast wahnsinnig, weil sie sich für alles verantwortlich fühlt.
Die Aufführung zeigt, wie Menschen an den Zumutungen der Technologie verzweifeln, weil ihnen jeder Freiraum genommen wird. Die Regeln der „sozialen Physik“ fordern die völlige Unterordnung. Einen Ausweg gibt es nicht. Zumindest nicht für diejenigen, die Geld verdienen und ein gesellschaftliches Leben führen müssen. „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ ist eine pointierte und packende Gesellschaftsanalyse. Die Drehbühne zeigt immer neue Spielorte, manchmal sprechen die Schauspieler wie im Kabarett direkt das Publikum an. „Diskurs-Pop“ nennt Hermann Schmidt-Rahmer die Form des Abends, eine Mischung aus Informationen und lustvoll eingesetzten Theatermitteln.
Am Ende bleibt nur die Hoffnung, dass das fehlerhafte Wesen Mensch in den Zwängen der Optimierung nicht zugrunde geht. Oder zumindest die Auswertung der Daten nicht in den Händen globaler Unternehmen liegt, sondern demokratisch kontrolliert wird.