Foto: Das Ensemble des Jugendclubs am Theater Bielefeld in "Parallele Welten - Die Insel". © Sarah Tabea Meier
Text:Jens Fischer, am 19. November 2012
Stadttheater, multikulturale futurissimo: Abendvorstellung ausverkauft, die Besucher befinden sich mehrheitlich deutlich diesseits ihres 40. Geburtstages, und nicht nur Schamtücher um diverse Haarschöpfe machen viele als Deutsche kenntlich, die noch weitere kulturelle Wurzeln haben. Auf der Bühne uraufgeführt wird „Parallele Welten – Die Insel“, eine Stückentwicklung von Nuran David Calis.
Der auf dem Migrantenkiez Bielefelds aufgewachsene Autor hatte erfahrungsgesättigte Texte in einer Schreibwerkstatt gesammelt, vornehmlich von Muslimen. Canip Gündogdu inszeniert jetzt dem Publikum gemäß: multikulturale futurissimo. Ob die 14- bis 22-jährigen Darsteller ihrer selbst aus Kasachstan, Ostwestfalen, Russland, Mosambik, der Nähe von Hannover, Türkei, dem Kosovo, Kaukasus oder ehemaligen Jugoslawien kommen, alle toben vereinheitlichend weiß gekleidet über eine unschuldig weiß ausgepinselte Bühne. Eine geradezu märchenhafte Idealisierung des Handlungsortes, der Chatroom „Die Insel“. Dort beginnt der Abend mit einer „Kontakthof“-Paraphrase à la Pina Bausch, ein Dutzend Jugendlicher irrt suchend herum ohne sich anzugucken, ihre Körper fallen immer wieder einsamkeitsverloren ineinander zusammen. Pflichtschuldig schnell noch die übliche Kritik an Facebook & Co. auf der Textebene angerissen. Dann loben alle ihren Chatroom als egalitären Spielplatz der Fantasie, wo Ideen, Visionen, Utopien entstehen – und Menschen sogar zueinander finden können.
Szenisch gefeiert wird eine Revue: Gesang, Tanz, Musik, Ich-Marketing, Video, Grillparty, Schatten- und Schauspiel. Überbordend positiv entwickelt sich aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus das Multikulti-Futur zum postmigrantischen Präsens. Die im Text noch vorhanden Verständigungsparolen – schleift Mauern zu Brücken, nutzt Fernweh zum Entdecken paralleler Welten in eurer Nachbarschaft – werden nicht benötigt. Auf der Bühne haben die Jugendlichen den dialektischen Dreischritt längst hinter sich und aus dem Widerspruch der elterlichen und deutschen Kultur ihr vor Vitalität berstendes Pubertätsleben synthetisiert. Und wenn mal Widersprüche, Probleme, Ressentiments auftauchen, ertönt sofort als Entschuldigung: „Wir machen doch nur Spaß, Alter.“
Dass die Darsteller ihre eigenen Texte darbieten, ist natürlich ein Authentizitätsgewinn – aber eben auch recht eindimensional. Alle erzählen elanvoll von sich, zeigen aber bestenfalls das, was sie sagen. Unter-, Neben- und auch mal ganz andere Töne sind von Laien auch nicht zu erwarten. Obwohl einige schon wirkungssichere Bühnentiere sind. Und geradezu mitreißend die dramatische Grundsituation des Stücks überspielen. Denn Anonymus loggt sich (als Stimme aus dem Lautsprecher-Off) in den Gute-Laune-Chatroom ein, nutzt ihn zum Countdown des eigenen Selbstmordes. Und begründet diese Flucht vor dem Sündenfall Migrationshintergrund so, wie die Bühnenfiguren schon lange nicht mehr argumentieren: aus einer Opfermentalität heraus, ohnmächtig der Wunsch nach Heimat, das Ringen um Identität, schamvoll zerrissen zwischen zwei Lebenssphären. Allein deswegen fühlt sich Anonymus bereits schuldig, ausgegrenzt, unumkehrbar verbannt an die Peripherie der Gesellschaft. Das Aufgeben nervt die obsessiv gemeinsam Aufbegehrenden. Eine Auseinandersetzung findet nicht statt, die Jugendlichen kontern nur mit dem, was ihrer Ansicht nach alles toll ist hier und jetzt. Und am allertollsten, das sieht man, ist ein Theaterjugendclub, in dem theatrale Formen fürs Outing der eigenen Lebensgier auszuprobieren sind. Lust auf Zukunft, Volldampf auf allen Ebenen. Ach, wie alles sein könnte, wenn wir es Friede-Freude-Frischmilch-Weiß an-, über-, ausmalen – energieprall eine Welt behaupten, nicht viele Welten voneinander abschotten. Traumtheater Bielefeld, multikulturale futurissimo.