Foto: Ben Becker als Pluto und Stefan Kurt als Orpheus. © Matthias Baus
Text:Wolfgang Behrens, am 19. Dezember 2011
Als Jacques Offenbach 1855 sein Theater „Bouffes Parisiens“ gründete, da spielte er zunächst in einer besseren Bretterbude. Und als er ein halbes Jahr danach in ein beheizbares Haus umzog, übernahm er ein heruntergekommenes Kinder- und Zaubertheater. Wir müssen uns die „Bouffes Parisiens“ also als eine Art Off-Klitsche vorstellen, und wenn sie auch später etwas komfortabler werden sollten, dann blieb an ihnen doch immer etwas Provisorisches und Improvisiertes haften.
Vielleicht liegt es ja an dieser tendenziell dubiosen Herkunft, dass sich die großen staatstragenden Opernhäuser mit Offenbach oft so schwer tun. Wenn Philipp Stölzl nun an der Berliner Staatsoper in deren Interimsdomizil Schiller Theater den „Orpheus in der Unterwelt“ mit (Schauspiel-)Starbesetzung vom Stapel ließ, dann darf einen zumindest das Bühnenbild (Conrad Moritz Reinhardt/Philipp Stölzl) an das Holztheater von 1855 denken lassen: Nichts als große Holzpodeste stehen da rum. Mit Seilzügen nach oben geklappt, geben diese jedoch, nach Art von Pop-up-Bilderbüchern oder Papiertheatern, den Blick auf kleine, kulissenartig gestaffelte Szenerien frei – auf eine Hirtenhütte samt Pappziegen, auf eine unterirdische Grotte oder olympisches Wolken-Ambiente. Reizend ist das, sehr reizend.
Doch über diesen optischen Reiz kommt die Produktion leider kaum hinaus. Stölzl hat nach eigenem Bekunden „direkte Gesellschaftskritik“ aus seiner Inszenierung bewusst herausgehalten: der Witz der Operette als Zeitkunst ist so allerdings dahin – und fast jeder andere Witz auch. Stattdessen prasselt ein Festival behäbigen Biederhumors auf die Zuschauer ein: Stefan Kurt gibt den Orpheus als Virtuosen-Karikatur à la Paganini, die ihre schmale Komik vor allem aus einem immerhin recht gekonnt imitierten italienischen Akzent bezieht. (Überhaupt die Akzente: Wenn sie der letzte Rückzugsort des Komischen sind, dann ist meist mit dem Humor etwas nicht in Ordnung. Dass Juno schwäbelt, kommt so eher erschwerend als erheiternd hinzu.) Ben Becker als Pluto und Gustav Peter Wöhler mühen sich redlich um ein bisschen Klamotte und Travestie, sie bleiben indes allzu früh stecken, als fehlte ihnen die Traute zum Aberwitz. Und da selbst das musikalische Arrangement von Christoph Israel und zwei Ko-Bearbeitern mit ein paar angeschrägten Harmonien, Wagner-Zitaten und einem Banjo nur wenig von der Offenbach’schen Leichtigkeit transportiert (das kleine Orchester ist, unvorteilhaft für Klang und Zusammenspiel, hinter den Darstellern postiert), muss man sich an die eine tolle Szene halten, in der der großartige Hans-Michael Rehberg als nach erlösendem Vergessen gierender Fährmann Styx mit präziser Melancholie vorführt, wie Humor auch eine Tiefendimension öffnen kann.
Einen Tag nach dieser Offenbach-Großproduktions-Pleite zeigte eine Aufführung der Freien Szene, wie man es besser machen kann. Natürlich geht das von Jochen Sandig geleitete Berliner Radialsystem kaum mehr als Off-Klitsche durch, dem Geist Offenbachs ist man an dieser freien Produktionsstätte jedoch offensichtlich näher. Die seit einem knappen Jahrzehnt etablierte Opernkompanie Novoflot hat sich dort, in der Regie von Sven Holm, der Offenbachiade „Pariser Leben“ angenommen. Reichlich überflüssig mutet zwar noch die neu hinzuerfundene Rahmenhandlung an, in der – „Faust“ lässt grüßen! – ein Streit zwischen einem vergnügungssüchtigen Gott und der Lichtgestalt Luzifer ausgefochten wird. Dann freilich wird das Spiel um Schein und Sein, das in „Pariser Leben“ auf die Spitze getrieben ist, raffiniert auf alle Spielebenen übertragen: Die Musiker (der hervorragend aufgelegten Neue-Musik-Formation ensemble mosaik) schauspielern, die Sänger musizieren mitunter instrumental, eine Tänzerin singt etc – die Spanne vom Laientum zur höchsten Professionalität wird so aufs Wunderlichste ausgeschritten. Während die Handlung um vorgetäuschte Tables d’hotes und Empfänge auf Hochtouren kommt, gelingt es der Aufführung, dem Offenbach’schen Irrsinn den eigenen entgegenzusetzen: Zwischen Aluminiumleitern, Metallgerüsten und Luftballons werden Fasane vom Himmel geschossen, enthemmt kreischende Jodler abgesetzt oder stumme Chorus Lines gemimt.
Vor allem aber gibt es hier hochenergetische Augenblicke des Innehaltens. Die Marthaler-erprobte Schauspielerin Olivia Grigolli rezitiert Texte über die Rücknahme der Schöpfung und jeglichen Sinns, und wie als Illustration dazu bricht die Offenbach’sche Musik manchmal mitten im größten Rausch momentweise ab und lässt die quietschvergnügt kreiselnde Gesellschaft erstarren. Ein horror vacui macht sich dann breit, ein existentieller Abgrund tut sich auf unter dem Wirbel, und eine so entsetzliche wie entsetzlich komische Nähe wird greifbar: die Nähe vom Schein zum Nichts.