Foto: UA der Ballettoper "Charlotte Salomon" in Gelsenkirchen. Junior Demitre, Ayako Kikushi © Costin Radu
Text:Bettina Weber, am 15. Februar 2015
Tanz und Bildende Kunst zu verbinden ist kein gänzlich neues Metier für die Gelsenkirchener Ballettdirektorin Bridget Breiner: 2007, noch ganz zu Beginn ihrer Karriere als Choreographin, kreierte sie mit Studenten der John-Cranko-Schule eine Arbeit im Stuttgarter Kunstmuseum. Nun hat sie erneut die Nähe zur Bildenden Kunst gesucht, und zwar zu der Malerin Charlotte Salomon, die der Theaterwelt spätestens seit Luc Bondys Uraufführungsinszenierung der Oper „Charlotte Salomon“ von Marc-André Dalbavie bei den Salzburger Festspielen im vergangenen Sommer ein Begriff ist.
Dabei ist es sogar erstaunlich, dass das Werk der Expressionistin für die Bühne erst so lange nach ihrem Tod entdeckt wurde: Im französischen Exil malte die jüdische Künstlerin innerhalb weniger Jahre über 1000 biographisch geprägte Bilder, aus denen sie fast 800 für einen Zyklus mit dem Titel „Leben? Oder Theater?“ auswählte, explizit als Singspiel gekennzeichnet und als theatrale Szenenfolge konzipiert. Immer wieder sind Texte, teils wie Regieanweisungen, in die Bilder hineingeschrieben. Dass ihr Werk sowohl fertiggestellt als auch gerettet werden konnte, ist großes Glück: Im Oktober 1943 wurde sie, gerade einmal 26-jährig, nach Ausschwitz deportiert und ermordet.
In Gelsenkirchen hat Bridget Breiner aus dieser Lebenswerk-Vorlage gemeinsam mit der amerikanischen Komponistin Michelle DiBucci eine spartenübergreifende Ballettoper konzipiert, die Bild, Tanz und Musik vereint. Das Ergebnis ist eine hochkomplexe, aber auch äußerst metaphorisch-sinnliche Arbeit. Drei Figuren aus dem Leben der Malerin werden in der Choreographie explizit herausgehoben, sie sind einzelnen Tänzern zugeordnet. Natürlich sind dies Figuren, die im Leben der Tänzerin prägend waren, und sie tragen im Stück die Namen, die Salomon ihnen gab: Da ist der Charlotte in ihrer Kunst bestärkende Gesangspädagoge Amadeus Daberlohn alias Alfred Wolfsohn (wirbelnd und ausdrucksstark getanzt von Junior Demitre), in den sie sich verliebt, obwohl er eigentlich ein Wegbegleiter ihrer Stiefmutter, der Sängerin Paula Lindberg (hier: Paulinka, getanzt von Ayako Kikuchi) ist. Außerdem umgibt sie von Anfang an wie ein unfreiwilliger Schatten an ihrer Seite der Tod (Jonathan Ollivier). Immer wieder tanzt er mit und neben ihr, er wird sie am Ende einholen, und er ist im Leben schon ein ständiger Weggefährte: Tante, Mutter und Großmutter der Malerin begangen Selbstmord. Weil das Sterben also im Leben der echten Charlotte Salomon so präsent war, nimmt der Tod hier konsequenterweise Gestalt an. Und tänzerisch bekämpft ihn diese Charlotte kaum, als habe sie akzeptiert, dass er zu ihr gehört.
Die größte Herausforderung beim Zuschauen ist an diesem Abend gleichzeitig die größte Qualität: Wo Bild, Bewegung und Musik in ihrer eigenen Vielschichtigkeit einerseits miteinander konkurrieren, da intensivieren sie sich andererseits zu einem extrem kraftvollen Bühnenereignis. Oft werden sehr viele Ebenen gleichzeitig eröffnet: Eine Stimme aus dem Off liest Passagen vor, die offenbar aus der Vorlage stammen, das Publikum sieht die Bilder der Künstlerin auf Vorhängen und Gazen, die oft parallel in fließend ineinander übergehenden Projektionen über die Bühne wandern, davor verkörpern die Tänzer die Inhalte der Bilder. Mitunter stellen sie verschiedene Figuren dar, tragen zweidimensionale, gemalte Masken vor ihren Gesichtern, die wie vergrößerte Ausschnitte der Köpfe aus Salomons Bildern aussehen. Und dann ist da natürlich noch Charlotte selbst, Kusha Alexi tanzt sie grazil, mit Anmut, oft in expressivem, Verzweiflung ausschenkendem Schwung, dann wieder sensibel und verletztlich. Sie, die sich im hellblauen Kleid auch äußerlich unterscheidet von den anderen, deren Kostüme eher wie gemalt aussehen (Bühne, Kostüm und Masken: Jürgen Kirner), schaut manchmal den anderen Tänzern zu, ihren lebendig gewordenen Malereien, schreitet dann gestaltet ein, wird dann wieder durch eine vorgehaltene Maske von anderen Tänzerinnen dupliziert und in die Rolle der Betrachterin zurückgeworfen. Dazu erklingen der reduzierte, aber immer wieder mehrstimmig überlagerte Gesang und die Komposition DiBuccis, die voller Materialtiefen steckt, voller klarer Melodien, aber auch Aufhorch-Momente, Soundeffekte und Geräusche beinhaltet. Den Sinnen wird folglich viel abgefordert, möchte man dem Gehörten in seiner Wirkung nachgehen, zugleich nicht die Anziehung zur oft temporeichen Choreographie verlieren und inhaltlich den biographischen Szenen folgen, diese lassen nämlich auch Assoziationsspielräume für die Details zu – zumal für Zuschauer, die sich vorab nicht intensiv über die Lebensstationen Charlotte Salomons informiert haben.
Insgesamt ist das Zuschauen hier eine angenehm herausfordernde Konsumaufgabe, schwierig wird es eigentlich nur dann, wenn die Mittel, die zur Verbindung der Künste eingesetzt werden, plötzlich ihre eigenen Geschichten erzählen: die Masken, die wunderschön die Zweidimensionalität des Bilder in den lebendigen Tanz mittransformieren, jedoch eine zusätzliche Deutungsebene eröffnen, oder die lesende Stimme aus dem Off, die Orientierung schaffen soll und eher ablenkt als untermalt – vor allem, da die übrigen Worte aus der Vorlage so schön in Gesang übersetzt werden.
Dann aber, und dies sind die stärksten Momente, die es besonders in der zweiten Hälfte nach der Pause gibt, findet alles einen gemeinsamen Fokus und ist konzentriert auf einen Erzählvorgang: Beispielweise in der Szene, in der Charlotte Salomon ihre Großmutter verliert: Wenn sich Francesca Berruto erst hinter der erleuchteten Papierfigur der Großmutter krümmt, ihren inneren Kummer zeigt, dann hinter ihr hervortanzt, auf ein Bett steigt, unter dem schon der Tod in Gestalt von Jonathan Ollivier liegt.
Dies mag der einzige konzeptionelle Haken sein: dass häufig Erzähl- und Deutungsebenen addiert, übereinander geschoben, verkeilt werden und sich dabei in ihrer Wirkung an mancher Stelle etwas gegenseitig im Wege stehen. Weil aber aus der Verbindung von bewegten Bildern, Musik und Tanz vor allem eine gesteigerte Ausdruckskraft erwächst, überwiegt das positive Erstaunen darüber, welch beachtliches Gesamtkunstwerk hier entstanden ist. Am 28. Februar eröffnet das Kunstmuseum Bochum eine Ausstellung mit Bildern aus dem Zyklus „Leben? Oder Theater?“, und Breiners Tänzer werden Teile der Inszenierung im Museum zeigen. So findet alle Erweiterung in seinen Ursprung, das gemalte Bild, zurück.