Foto: Schwere Thematik, doch Leichtigkeit im gemeinsamen Spiel: Elisabeth Hütter und Tim Weckenbrock in "Ein deutsches Mädchen". © Forster
Text:Manfred Jahnke, am 27. Oktober 2019
Nicht erst mit dem Erstarken der rechtsopportunistischen AfD hat sich in der Bundesrepublik eine rechte Szene salonfähig gemacht. Wie sehr neonazistische Kräfte in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, erfährt man aus Aussteigerbiographien, die aus Angst vor Repressalien viel zu selten in die Öffentlichkeit gelangen. Heidi Benneckenstein hat es 2017 mit „Ein deutsches Mädchen. Ein Leben in einer Neonazi-Familie“ getan. Sie erzählt die Geschichte ihrer Sozialisation in einer gehobenen Beamtenfamilie, von ihren Auseinandersetzungen mit dem Vater, den völkischen Ritualen in den HDJ (Heimattreue Deutsche Jugend), den Saufereien und Gewaltexzessen, von der Agitation in der NPD, aber auch von der Hilfe, die aus dieser Szene kommt und sie zu einer verschworenen Gemeinschaft macht. Sich daraus zu lösen, ist fast unmöglich. Sie ist verliebt in Felix, der eine ganz andere Geschichte als sie hat und der gerade erfolgreich eine Karriere als rechter Sänger beginnt – und beide wissen, was Verrätern in der Szene blüht.
Benneckenstein erzählt schonungslos gegenüber sich selbst und ihren Mitstreitern. Es prägt, wenn man bis zum achtzehnten Lebensjahr ausschließlich unter Neonazis lebt. Umso beachtlicher, sich aus dieser Prägung zu lösen, sich in der Hilfe für Aussteiger aus der rechten Szene zu engagieren und eine Familie zu gründen, mit Felix, von dem sie ein Kind erwartet. Wenn im Buch, das als schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie angelegt ist, im Nachdenken über die eigene Vergangenheit immer wieder Zweifel an der Ideologie auftauchen, so reduziert die Bühnenfassung dieses Buchs am Landestheater Schwaben in Memmingen diese Ebene der Zweifel enorm. Hier interessiert eher die Binnenschau, die Frage, wie in einer rechten Sozialisation die Organisationen bei der Persönlichkeitsbildung ineinandergreifen und zu einem inhumanen und intoleranten Weltbild führen. Was darüber hinaus versucht wird, ist, die zweifelsohne subjektive Geschichte zu verobjektivieren, anhand des Einzelfalls die gesellschaftliche Entwicklung aufzuzeigen. Das gelingt dem Regisseur Mirko Böttcher, weil er zwei exzellente Schauspieler zur Verfügung hat. Marie Wildmann hat überdies ein praktikables Bühnenbild geschaffen: eine erhöhte leere Spielfläche, an der rechten Seite ein Treppenpodest. Nach hinten wird der Raum abgeschlossen von einer Wand mit 25 Kästen verschiedener Größe, in denen jeweils Spielrequisiten wie das Ahnenbuch oder Kanister aufbewahrt werden. Zugleich lassen sich die Kisten auch stapeln oder dienen als Sitzgelegenheit.
Eliabeth Hütter spielt die Heidi. Staunend schaut sie auf ihr Leben, lässt sich voll emotional auf ihre Rolle ein. Leitmotivisch spielt sie das Pochen in den Schläfen, das jeweils den Gewaltaktionen vorangeht, aus: Man kann zuschauen, wie sich da etwas aufstaut, der Kontrolle entgleitet und in körperliche Aggressivität umschlägt, wie diese Erfahrung zugleich Lust und Angst auslöst. Hütter kann dabei blitzschnell vom naiven Staunen in Wutausbrüche umschalten, um im nächsten Augenblick wieder ein schüchternes Lächeln aufzusetzen. Tim Weckenbrock spielt den Felix, als der er sich auch einführt; er ist laut, aber auch witzig und spielt mit wenigen andeutenden Gesten auch andere Rollen wie die Großmutter. Das macht er überzeugend und spielt sich so aus der Funktion des bloßen Stichwortgebers heraus. Er arbeitet an seiner Figur des Felix auch sehr genau heraus, dass er eigentlich mit anderen Werten als Heidi aufgewachsen ist, die nicht ohne Folgen geblieben sind: Er steht immer ein wenig über der Sache, entweder übertreibend laut oder süffisant lächelnd. Im Zusammenspiel zwischen Hütter und Weckenbrock entsteht so eine Leichtigkeit, die den Zuschauer mit auf die Reise in diese Welt nimmt.
Mirko Böttcher gelingt es, in seiner Regie nicht aufdringlich zu moralisieren, sondern einfach Vorgänge zu zeigen. Er vermeidet darüber hinaus jeglichen Naturalismus, aggressive Szenen werden angedeutet, aber nicht ausgespielt. Auch die Musikeinspielungen (Musik: Alexandra Holtsch) bleiben dezent, zumeist werden nur ein paar Takte angespielt, um eine Situation anzudeuten, oder es sind im Hintergrund leise Töne zu hören, die der jeweiligen Szene eine eigene Farbe geben. Ein tolles Angebot, sich auf spielerische Weise ohne ausgestreckten Zeigefinger mit einem wichtigen gesellschaftlichen Thema auseinanderzusetzen. Apropos Angebot: In Memmingen gibt es bereits 27 ausverkaufte Vorstellungen. Abstecher wurden keine gebucht. Was ist da im Allgäu los?