Gemeinsam ist man eben weniger allein. Beruhigend angesichts einer performativen Show, die – anders als bei den vorausgegangenen Produktionen der Sparte Tanz „shifting_perspective“ oder „Boléro“ – ihren Betrachter nicht fix im Geschehensmittelpunkt platziert und belässt, sondern vom Betrachtungsstandort her wie auch inhaltlich oft in eine Art Schwebezustand versetzt. Das lässt sich beim Bestellen fürs Angucken daheim durchaus einkalkulieren. Denn schnell wird aus dem einsamen Wohnzimmer-Erfahrungstrip ein interfamiliärer Spaß, wenn man sich im Nachgang darüber austauscht nach dem Motto: „Krass, mir hat die Tänzerin direkt ins Gesicht gestarrt!“ oder „Der aufgewühlte Pulk tanzte regelrecht durch mich hindurch.“. Eine solche Vorgehensweise kann dann auch über manche Schwachstellen hinwegtrösten, wie etwa die schwer nachvollziehbaren Filmschnitte, die oft als Lichtüberblendungen daherkommen mit einer Wirkung, als schaue man kurz direkt in die Sonne.
Jeder Zuschauer bewegt bzw. „arbeitet“ sich körperlich anders durch das ihn teils umspülende, teils vor oder unter ihm ablaufende Stück. Hört man dazu noch Bemerkungen wie „Ach, jetzt laufen die Tänzer über eine Treppe herein“, ist glasklar, an welcher Stelle sich die – vor allem durch ihr cleveres Nutzen des Raums ästhetisch ansprechende – Vorführung gerade befindet. Allein beim lohnenswerten Versuch, den öffentlich unzugänglichen Dreh- und Handlungsort vom Boden über die vielen Säulen bis hinauf zur Decke bei gleichzeitigem Verfolgen der Interpreten zu erkunden, sei von zu intensivem Kopf- bzw. Drehstuhleinsatz abgeraten. Besser riskiert man keinen flauen Magen und klickt sich stattdessen erneut mit Blicken durch die kurze, unumgängliche Befragung (vorab Alter und Geschlecht, dann Einschätzung des Produkts zum Schluss).
Ricardo Fernandos „kinesphere“-Ballett zeichnet weniger ein dramaturgisch gewieftes Konzept noch das insgesamt aufgebotene Bewegungsmaterial für seine 17 Tänzerinnen und Tänzer aus. Zwar agieren alle sehr dynamisch, dabei aber meist schreitend, laufend, rennend oder sich gegen Wand- und Bodenelemente der zwei Etagen im sogenannten Reinigerhaus des ehemaligen Gaswerk-Geländes stützend. Choreografisch bleibt da viel Potenzial ungenutzt und für die engagierte Gruppe einiges nach oben offen. Schließlich tanzen sie sich aus dem kellergeschossartigen Untergrund in den ersten Stock vor, wo sie auf den zurückgelassenen Roboter KUKA Iontec KR 30R2010 stoßen. Genau wie jeder Zuschauer gleich zu Beginn.
Ein imposanter Anblick, dieser feinmotorige, mit stabartiger Nase bewaffnete Kugelkopf eines beseelt wirkenden Gegenübers. Später wiederholt sich dieser Eindruck – nur dass man diesmal direkt ins Antlitz der Solistin Gabriela Zorzete Finardi schaut, die innerhalb der schlanken, durchaus noch ausbaufähigen Handlung offenbar als KUKAS Programmiererin fungiert. Mit ihm als verlängertem Arm ist sie Alleinherrscherin über ein Menschenkollektiv, das sich am Ende entschlossen abnabelt. Dadurch wird die zum Thema erkorene Unterschiedlichkeit und wechselhafte Beziehung von Mensch und Maschine – mit aus dem Off gesprochenen Textpassagen unterlegt – in Anbetracht der spektakulären Produktionsbedingungen doch auf recht unterkomplexe Weise verhandelt.
Das virtuelle Endergebnis der vier Bilder reicht hier an die atmosphärisch-starken Live-Probeneindrücke vor Ort leider nicht heran. Hatte der am Boden festgenagelte und choreografisch zum Leben erweckte Roboter im Kampf gegen die Masse nicht heftiger um sich geschlagen? Wirkte die eigens vom Soundkünstler Lilijan Waworka komponierte Musik seinerzeit emotional nicht wesentlich eindringlicher? Nun plätschert sie von allen Nebengeräuschen befreit als Tonspur in CD-Qualität bestens geeignet für Kopfhörer mit.
Anlässlich der Premierenveranstaltung bot die Möglichkeit, anschließend mit dem Ensemble und den Machern ins Gespräch kommen zu können, sicher einen zusätzlichen Anreiz. Ein Bonus-Programm, das dem nach Hause per Post zugestellten Theatererlebnis-Paket leider definitiv fehlt. Das Mensch-Maschine-Tanzstück von 30 Minuten Spieldauer hätte unbedingt einen zusätzlichen Track mit Hintergrundinformationen zur Location und mit Einblicken in die komplexe, alle Gewerke einbindende und den agilen Industrieroboter in den Mittelpunkt einer choreografischen Erzählung stellende Kreation verdient. Welch enormer produktionstechnischer Aufwand „kinesphere“ ausmacht und die dagegen stehende knappe Zeit für den künstlerischen Input – allein das raumstarke Seherlebnis aus verschiedenen Perspektiven und manchmal unmöglich gleichzeitig wahrnehmbaren Protagonisten kann das nicht vermitteln.
Letztlich setzt man seine VR-Brille mit einem zwiespältigen Eindruck ab. Das mag zu Fernandos Inszenierung passen, die zum Schluss auf einen wunderschönen, sehr intimen und berührenden Pas de deux der menschlichen Hauptprotagonistin mit KUKA Iontec KR setzt und auf ein womöglich kitschiges Happy End verzichtet. Linst man etwas nach links, so sieht man dort das Ensemble auf freier Fläche endlos ein riesiges Carré abschreiten. Dann verlässt Gabriela Zorzete Finardi ihren maschinellen Partner. KUKA Iontec KR und wir als Betrachter sind erneut allein. Nach zahlreichen Perspektivwechseln und Nahkontakten wird man nachdenklich: Was, wenn jedes Erlebnis auf so etwas hinausläuft… Das Ganze hat gewiss betörende Momente, ist choreografisch-erzählerisch aber stellenweise zu schwach.