Kein leichtes Unterfangen, gibt es in Shakespeares’ Vorlage schließlich keinen Mangel an Rollen und komplizierten Beziehungen; ist doch Lear jener alte Monarch, der abdanken und das Reich auf seine drei Töchter Goneril, Regan und Cordelia aufteilen will – allerdings erst, nachdem jede ihm einen Liebesbeweis erbringt. Doch die Jüngste, Cordelia, verweigert dies. Also verbannt er sie und übergibt alles den beiden Älteren. Sein Vorhaben wiederum, dort den Rest seines Lebens abwechselnd zu verbringen, erfüllt sich nicht. Goneril und Regan verstoßen den „launischen“ Vater ihrerseits.
In „EGON king MADSEN lear“ trifft das Publikum denn auch auf die letzte Lebensphase eines Mannes, der einst die absolute Macht besaß. Nun hat er alles verloren. Hilflos und alleingelassen von der Welt und seinen einstigen Liebsten, die sich gegen ihn gewendet haben, wird er konfrontiert mit seinen Erinnerungen und den Trümmern der Vergangenheit. Er versteht nichts mehr. Wie konnte es soweit kommen? Indem er versucht herauszufinden, was er falsch gemacht haben könnte, gleitet er in den Wahnsinn ab, dabei so grimmig wie gekränkt, so starrsinnig wie verletzlich den Sprachfetzen seiner Töchter auf den Bändern lauschend. Sein Gesichtsausdruck ist verwirrt, ja fassungslos, als er hört, dass ältere Menschen wie Kinder seien. Wenn sie nicht gehorchten, müssten sie geschlagen werden. Oder: „Du kennst mich nicht!“ Gift, Galle, die Pest und mehr wünscht er seinen Töchtern an den Hals, verflucht den Tag, als er diese zu seinen Müttern gemacht hat, „… und Dir selbst die Hosen runterzogst“. Eigene Fehler? Die versteht er erst am Schluss – womöglich – zu spät.
Mauro Bigonzetti und Dramaturg Pasquale Plastino schicken Egon Madsen in das Universum eines Mannes, der in seinem eigenen Geist gefangen ist. Und wie er sich in diesem bewegt, versucht Sinn zu finden, Rechtfertigung oder gar die unmögliche Erlösung, das geht unter die Haut. Nicht nur weil das Team – Madsen hat das Stück mitentwickelt bei den ersten Proben in Italien, wo er fünf Minuten von Bigonzetti entfernt lebt – mit wenigen Mitteln Bilder findet, die alles auf den Punkt bringen, wie ebenso Carlo Cerris Bühne und Licht oder Gudrun Schretzmeiers Kostüme. Vor allem auch, weil Madsen den Lear nicht nur gibt. Der 77-Jährige ist der King. Ob er flehentlich fragt „Wer bin ich, Herr“, ein Krone mit Narrenschellen aufsetzt und betende Hände hindurch streckt. Ob er goldbraun-gezackte Schuhe anzieht, die Füße aneinander klopft, kindlich skandierend „Ich bin ein König!“. Oder ob er eine ausgeleierte Strickhülle, die an einen wenig glamourösen Bademantel erinnert, über seinen halbnackten Körper zieht, royal die Arme ausbreitet, mit schwingendem Zepter à la Reiterstandbild auf dem Thron galoppiert, dann darauf Ballettposen vollführt und aufreizend die Hüften schwenkt – mal zu Chorälen von Thomas Tallis aus dem 16. Jahrhundert, mal zu Symphonischem von Ralph Vaughan Williams zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Wie deklamiert noch King Egon? Gleich nach der Geburt betrete der Mensch ein Narrentheater. Man glaubt es ihm gerne. Vor allem in diesen Zeiten. Was auch zeigt, wie viel Aktualität Bigonzetti, Madsen und das Theaterhausteam aus Shakespeares Klassiker herauskitzeln. Da geht es nicht nur um Macht, deren Verhältnisse und Potenzial der Korrumpierbarkeit. Da geht es auch um den Respekt der Generationen untereinander, das Thema Altern und Körperlichkeit in der Ära des demographischen Wandels – und nicht zuletzt darum, dass Tanz in jedem Alter möglich ist.