Foto: Tatjana Gürbaca (Margarita, spielte in der Premiere), Mirko Roschkowski (Fausto), Almas Svilpa (Mefistofele), Opernchor (v.l.) © Forster
Text:Martina Jacobi, am 28. Januar 2024
200 Jahre nach der Uraufführung zeigt das Aalto-Theater Essen die erste szenische Aufführung von Louise-Angélique Bertins opera semiseria „Fausto“ in der Regie von Tatjana Gürbaca. Eine Oper, die auf die Bühne gehört.
Die französische Komponistin Louise-Angélique Bertin sorgte mit ihrer „Ultima Scena“ 1826, noch zu Johann Wolfgang von Goethes Lebzeiten für eine oder die erste Vertonung von „Faust“ in Frankreich. Ihre vollendete Oper „Fausto“ wurde schließlich 1831 am Théâtre Italien in Paris uraufgeführt. Das bekannteste Werk der Komponistin ist ihre vierte und letzte Oper „La Esmeralda“, uraufgeführt 1836 an der Pariser Opéra Garnier, für die Victor Hugo basierend auf seinem Roman „Notre-Dame de Paris“ („Der Glöckner von Notre-Dame“) das Libretto verfasste. Bertin, die durch eine Polioerkrankung querschnittsgelähmt war, übertrug die Probenarbeit von „La Esmeralda“ Hector Berlioz. Um die Uraufführung herum wurden schließlich Stimmen laut, die Musik stamme von Berlioz und nicht Bertin, was schließlich mit zum Ende der kurzen Karriere der damals 31-Jährigen führte.
200 Jahre nach der Uraufführung wurde die Oper 2023 zum vierten Mal und konzertant in Bertins Erstfassung mit der Besetzung der Titelpartie als Mezzosopran am Théâtre des Champs-Élysées in Paris mit dem Ensemble Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset wieder aufgeführt. Es ist möglich, dass die Komponistin, die auch selbst Sängerin war, die Partie für sich selbst schrieb. Das Aalto-Theater Essen zeigte nun in einer szenischen Aufführung die Zweitversion von Bertins Oper mit der Tenor-Besetzung in der Titelrolle.
Spontanes Rollendebüt
Nachdem die Sopranistin Jessica Muirhead als Margarita bei der Premiere krankheitsbedingt ausfallen musste, fand sich Netta Or als kurzfristiger Ersatz. Die Sopranistin sang die in kurzer Zeit erlernte Partie überzeugend vom Bühnenrand – eine großartige Leistung! Als Margarita auf der Bühne sprang Regisseurin Gürbaca selbst ein, darstellerisch ein echter Hingucker, sodass der Ausfall dem Fluss des Abends keinen bemerkenswerten Abbruch tat.
Die Inszenierung beginnt in einer Art Krankenhaus. Im Unterschied zu Goethes Tragödie lernt Fausto, der Doktor, Margarita hier schon kennen, bevor er den verhängnisvollen Pakt mit Mefistofele eingeht als sie zu ihm kommt und ihn bittet, ihre Freundin Catarina zu behandeln (Nataliia Kukhar). Gürbaca liest Bertins Werk aus einer komischen Perspektive: Faustos Anrufung von Mefistofele, dessen Erscheinen er in seinem Verlangen nach Margarita befiehlt, passiert auf Knien mit in die Höhe gestrecktem Aschenbecher, wodurch Mefistofele als bis dahin regungslose Leiche auf dem Obduktionstisch von Fausto erwacht – und erstmal seufzt. Immer wieder gibt es Grund zum Lachen für das Publikum, etwa beim kleinen Stelldichein-Tänzchen von Catarina und Mefistofele.
Tatjana Gürbaca (Margarita, spielte in der Premiere), Opernchor © Forster
Vor dem recht schlichten Bühnenbild von Marc Weeger bleibt der Fokus auf der Handlung. Als roter Faden zieht sich ein Sündenbaum durch die Kulisse. Erst ist es Mefistofele, der Fausto von dort den Apfel reicht, später wird er zum Treffpunkt von Fausto und Margarita. Darin fügt sich gelungen das Lichtsetting von Stefan Bolliger ein, das bei Mefistofeles Anrufung dämonisch Faustos Schatten an die Wand wirft oder im pinken Look dessen Begehren verbindlicht, in dem Margarita lasziv mit dem Sündenapfel in der Hand im Hintergrund auf ihn zutanzt.
Mitreißende Musik
Bertins Libretto verdeutlicht Fausto als selbstbezogenen Charakter, der durch sein Handeln andere mit ins Unglück stürzt. Mirko Roschkowski singt ihn klar agil und spielt ihn als etwas fahrige Person, der man nur mitleidig beim Fall in die Hölle zuschauen kann. Mefistofele an seiner Seite wird diabolisch toll dargestellt von Almas Svilpa. Einen kurzen aber beeindruckenden Auftritt hat George Vîrban als Margaritas Bruder Valentino im dritten Akt, der die anspruchsvolle Partie auch spielerisch mühelos hinlegt.
Die Komponistin als auch Gürbaca bauen auf Realität. Margarita ist weder unschuldig noch nur ein Opfer, wenn sie „Flieht vor der Liebe, ihr Schönen! Fürchtet den Verräter!“ singt. Trotzdem gibt sie sich ihrem Verlangen hin. Die Kostüme von Silke Willrett verweisen auf die 50er-Jahre, noch vor Einführung der Anti-Babypille, um die Abhängigkeit der von Fausto geschwängerten Margarita zu verdeutlichen. Bertins Musik merkt man an, dass sie Sängerin war, in der orchestralen Begleitung der Essener Philharmoniker (Musikalische Leitung: Andreas Spering) als auch in der Melodie- und Stimmführung. Sie lässt Margaritas Reflexion durch ein langes Oboen-Solo hörbar werden, gibt der Handlung der ganzen Oper einen stimmungsvollen, mitreißenden Sound. Diese Oper gehört in den Orchestergraben und auf die Bühne.