„Rothko Chapel“ wurde 1971 anlässlich der Weihe des vom Künstler Mark Rothko mit schwarzen Riesenformaten ausgestatteten Sakralraums in Houston / Texas uraufgeführt. Im Jahr zuvor hatte sich der Maler selbst getötet.
Ringen von Dystopie und Utopie
Zimmermanns für den Konzertsaal geschriebenes und in Darmstadt erstmals szenisch realisiertes „Requiem“ birst vor Stofffülle. Zwischen einzelne Abschnitte der katholischen Totenliturgie wie deren Anfangsverse und dem finalen „Dona eis pacem“ wuchtet die Partitur eingespielte Originalzitate der Poeten Bayer, Majakowski und Jessenin samt O-Tönen aus Hitlers brauner Hetze oder – kontrastiv dazu – Papst Johannes‘ XXIII. Aufruf zur Gewaltlosigkeit, Passagen aus Joyces „Ulysses“ oder geflüsterte Grundgesetzartikel. Des Chores Klage greift ins Innerste. Das existenzielle Verlangen nach Ruhe und Frieden läuft nicht auf Friedhofsruhe hinaus, vielmehr weist sich darin ein utopisches Moment. Klangflächen und -kaskaden bestimmen den Orchesterpart ebenso wie elektronische Verzerrung sowie Jazziges und gar Beat.
Hausherr, Regisseur und in weiterer Personalunion Bühnenbildner Karsten Wiegand greift den Zimmermanns Werk völlig durchwaltenden Geist der Nachkriegsmoderne auf. Die Erinnerung an Bombenhagel und zerstörte Städte als Antwort auf deutsche Verbrechen ist allgegenwärtig. Indessen stürzen sich weder Zimmermann noch Wiegand darob in Verzweiflung. Die Selbstentleibung Bayers ist trauriger Fakt, nicht minder aber sind Jazz, Beat und musikalische wie literarische Avantgarde unhintergehbare Tatsachen. So ist denn Flower-Power dank Judith Adams bunten Anspielungen auf die Hippie-Mode gegenwärtig.
Drei Chöre verbürgen die Omnipräsenz des Kollektivs. Spielend und singend greift es von der Bühne auf Parkett und Rang über. Frappant, wie die leibhaftigen Massen mit Architekturen, historischem Bildmaterial und Friedensdemonstrierenden der Videos von Roman Kuskowski, Martin Kadel und Gabriel Sahm verschmelzen. Weniger überzeugen die von KI erzeugten Filme. Die Metamorphose der Soldateska diverser Gewalthaber geht noch an. Die Bilder des gekreuzigten Christus aber geraten in arge Nähe zum Kitsch. Sei dem, wie ihm wolle: Die Darmstädter setzen das theatralische Potential des Werks komplett frei.
Geistliches Werk
Bei Feldmans deutlich kürzerer „Rothko Chapel“ ist das nicht der Fall. Kann auch nicht. Das Werk ist rein kontemplativ. Seine Theatralität tendiert gegen null. Analog zu den schwarzen Riesenformaten im texanischen Heiligtum senkt sich ein solches – freilich leuchtend gerahmt – aus dem Bühnenhimmel. Der Chor tönt aus dem Off. Sehr schön, sehr entschleunigt, sehr meditativ. Doch in einen Sakralraum gehörig. Hinsichtlich der Darmstädter Topografie bleibt festzustellen: Die Kirche ist nebenan.
Riesenchor und fabelhaftes Orchester
Musikalisch reüssiert der Doppelabend in vielem. Der Opernchor des Hauses unter Alice Meregaglia, der von Wolfgang Seeliger geleitete Konzertchor Darmstadt und der Symphonische Chor Bamberg, dessen Einstudierung Mikko Sidoroff und Tristan Meister verantworten, agieren vokal homogen. In „Rothko Chapel“ überzeugt der jetzt allein auf sich gestellte Chor des Darmstädter Staatstheaters durch schwebendes Melos und hochmeditative Verklärung. In ihren überschaubaren Partien nehmen auch Solistinnen und Solisten für sich ein. Helden des Abends sind Karsten Januschke und das Staatsorchester Darmstadt. Kapellmeister und Klangkörper integrieren die elektronischen Zuspielungen und Verzerrungen nahtlos ohne Verzicht auf ihr symphonisches Eigenleben. Phänomenal.
Die besuchte Dernière war eine des Publikumszuspruchs halber angesetzte Zusatzvorstellung.