Man sieht eine Szene mit Taras Shtonda (Dossifei) und Ensemble

Ein Hauch von History

Modest Mussorgsky: Chowanscht­schina

Theater:Staatsoper Unter den Linden, Premiere:02.06.2024Regie:Claus Guth Musikalische Leitung:Simone Young

Die Staatsoper Unter den Linden zeigt die coronabedingt verschobene Inszenierung von Mussorgskys Monumentaloper „Chowantschina“. Claus Guths Regie lässt besonders hinsichtlich der Einordnung des aktuellen starken Mannes in Rußland Fragen offen. Das Orchester spielt unter Simone Young faszinierend auf.

Modest Mussorgskys „Chowanschtschina“ ist ein in Oper übersetzter Ölschinken. Ein übervolles, düster buntes Wimmelbild aus der Geschichte Russlands. Ein musikalisches und szenisches Unikum, das nicht nur ohne eine echte Liebesgeschichte, sondern auch ohne eine klar strukturierte Handlung auszukommen versucht. Trotzdem braucht es dafür jede Menge Personal. Und ein Publikum, das bereit ist, sich auf die Herausforderung einzulassen. In Berlin war jetzt beides vor Ort.

Die Staatsoper Unter den Linden wollte die Inszenierung von Claus Guth eigentlich schon 2020 herausbringen. Die Pandemie sorgte für eine Verschiebung um vier Jahre. Der Angriff auf die Ukraine änderte zudem die Perspektive auf diesen Blick in die russische Geschichte zusätzlich. Mit „Boris Godunow” hätte man es da leichter gehabt.

Unvollendets Monumentalwerk

Zumal sich dem von Mussorgsky (1839-1881) selbst nicht fertig gestellten Monumentalwerk gleich mehrere seiner bedeutendsten russischen Komponistenkollegen angenommen haben. Nikolai Rimsky-Korsakow sorgte für die Fassung, die als private St. Petersburger Uraufführung 1886 verbucht ist. 1913 folgte in Paris die Erstaufführung der Fassung von Maurice Ravel und Igor Strawinksy. 1960 schließlich gab es im Kirow Theater Leningrad die Bearbeitung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky, die jetzt auch Simone Young in Berlin mit der Staatskapelle Berlin dirigiert.

Was dabei im Graben flüssig und nie überbordend, dennoch an purer Klangpracht entfaltet wird, ist faszinierend. Dazu kommt der von Dani Juris einstudierte, stark geforderte Staatsopernchor und nicht zuletzt ein handverlesenes Protagonistenensemble. Von Mika Kares, als ein vokal und darstellerisch wuchtiger Iwan Chowanski und Najmiddin Mavlyanov als dessen Sohn Andrei, über Taras Shtonda als Dossifei und Georg Gagnidze als Bojar Schaklowity bis zu der wunderbar mezzosatt strömenden und berührend gestaltenden Marina Prudenskaya als Marfa. Die Staatsoper hat das Dutzend wichtiger Rollen durchweg exzellent besetzt.

Für seine Inszenierung konnte Claus Guth an die gemeinsame Arbeit mit Simone Young in Hamburg (u.a. beim Ring) anknüpfen. Man meint diese Vertrautheit aus Erfahrung genauso zu spüren, wie in der Zusammenarbeit mit Christian Schmidt (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme). Es ist eine Inszenierung entstanden, die das Heterogene der Vorlage nicht überschreibt, ja das Unfertige, Collagehafte zum Prinzip zu machen und auf diese Weise ein Ganzes zu liefern versucht.

Zar und Putin

Die Abfolge der Bilder beginnt und endet zwar im Kreml von heute. An Putins Schreibtisch vor einem überlebensgroßen Standbild vor Zar Peter I. in einer Nische dahinter. Mit einem (an diesem Abend höchst seltenen) ironischen Augenzwinkern wird hier sogar das Futter im Napf für Putins Hund nachgefüllt. Bei der Beschwörung des schweren Schicksals von Mütterchen Russland durch Schaklowity im dritten Akt tauchen im Video von Roland Horváth zwischen historischen Russlandbildern auch Sequenzen der knüppelnden Polizei von heute auf. Ansonsten tritt das Personal der Oper in Kostümen an, die direkt von den Historienbildern Repins stammen könnten, also mit einigem Schauwert punkten. Für die einzelnen Szene werden auf der leeren, schwarzen Bühne zudem angedeutete historische Schauplätze auf- bzw. hochgefahren.

So wie man Mussorgskys Version eines unruhigen Kapitels der russischen Geschichte aus dem 17. Jahrhundert als Ausgangssituation (und Legitimation) für die Machtübernahme durch Zar Peter den Großen betrachten kann, macht das eine hinzuerfundene Gruppe von Forschern in Laboranzügen innerhalb bzw. neben der Handlung. Nimmt man die Szenen im Arbeitszimmer von Putin in dieser Hinsicht ernst, dann ist das wohl eher eine Arbeit im Dienste der Legitimierung einer starken zentralen, also seiner Herrschaft, als im Interesse der Suche nach historischer Wahrheit.

Meistens funktioniert diese distanzierende Relativierung der historischen Bilder – wenn sie durchbrochen wird und einer von den Forschern plötzlich mal „mitspielt“ eher weniger. Guth geht dem Zuschauer auch dadurch entgegen, dass er die Figuren mit kurzen eingeblendeten Erläuterungen kenntlich macht. Ein Hauch von History im Opernformat umweht den Abend schon.

Eine seiner zentralen Figuren ist in der Vorlage gar nicht vorgesehen, ergibt sich aber aus der Rahmenbehauptung, nach der heute ein später Nachfolger des machtbewussten Zaren Peter im Kreml residiert, der sich gerne mal auf ihn beruft. Das Heranwachsen dieses Herrschers – als ein Leitmotiv – wird sogar wortwörtlich immer mal mit einem Kreidestrich über dem Kopf des jungen Peter an der Wand vermessen. Erst als Drohung für alle anderen in ihren Machtkämpfen Verstrickten, also als der berühmte Elefant im Raum. Am Ende hat er das Sagen und alle anderen gehen unter. Die Altgläubigen (inklusive Marfa und Chowanski jun.) sogar im Rahmen einer als Feuertaufe zelebrierten Selbstverbrennung. Musikalisch wirkt das ziemlich oratorisch. Danach holt der Bedienstete ein unterschriebenes Dokument von Putins Schreibtisch. Fall erledigt?