Die australisch-britische Autorin Suzie Miller hat selbst als Anwältin gearbeitet, bevor sie Dramatisches Schreiben studierte. Ihr Stück „Prima facie“ wurde im Mai 2019 von der Griffin Theatre Company in Sydney uraufgeführt. „Prima facie“ bezeichnet den ersten oder offensichtlichen Eindruck, der sich von einer Situation ergibt; der gerade im Fall sexualisierter Gewalt häufig nicht der Wahrheit entspricht und doch nicht selten ausschlaggebend wird für die Urteilsfindung. In dieser Spielzeit ist es der Newcomer der Saison im deutschsprachigen Theater: 13 Inszenierungen wird es bis zum Sommer geben. Den Anfang machte nun das Deutsche Theater in Berlin, wo Regisseur András Dömötör das Solo mit der Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno inszenierte. Diese deutschsprachige Erstaufführung ist Teil des Eröffnungswochenendes der neuen Intendantin Iris Laufenberg, die das Theater nach über 20 erfolgreichen Jahren von Ulrich Khuon übernimmt – und sich dessen großem Erbe an diesem Abend sehr souverän und eindrucksvoll stellt!
Im Zeugenstand
Tessa wird schließlich selbst zum Opfer. Ihr Kollege, mit dem sie gerade so etwas wie eine Affäre mit der Option auf Mehr begonnen hat, vergewaltigt sie. Vorher waren sie zusammen essen, haben viel getrunken, hatten bereits einvernehmlichen Sex. Augenscheinlich hat sie schlechte Karten, vor Gericht mit dem Vorwurf der Vergewaltigung durchzukommen. Das ist ihr mehr als bewusst. Sie geht den Weg dennoch, erstattet Anzeige. Es geht um sie selbst, aber auch um all die Frauen vor (und nach) ihr, denen Gewalt angetan und nicht geglaubt wurde. Denn auf einmal durchlebt Tessa all das, was die Frauen, die ihr sonst im Zeugenstand gegenübersitzen, durchleben. Die Angst, dem Täter wieder zu begegnen. Das ewige Warten auf den Prozess. 782 Tage sind es in ihrem Fall. 782 Tage Zweifeln an sich selbst, dem System und der eigenen Entscheidung. Das erneute Durchleben des Geschehens im Prozess. Die kritischen Fragen. Die Retraumatisierung.
Suzie Miller hat das Thema in einem Monolog verarbeitet. Es gibt nur die Perspektive von Tessa, die sich im Laufe des Abends um 180 Grad dreht. Ist sie zu Beginn eine knallharte Verfechterin des Rechtssystems, steht am Ende die Erkenntnis: „Das Gesetz über sexuelle Übergriffe wird unter falschen Voraussetzungen ausgelegt. Die weibliche Erfahrung sexualisierter Gewalt passt in kein von Männern geprägtes System.“
Ein Plädoyer für die Veränderung
Marcy Dorcas Otieno macht die vielen Facetten dieser Frau eindrücklich sichtbar. Dömötör vertraut ganz ihrem Spiel auf der beinahe leeren Bühne, auf der Moïra Gilliéron lediglich eine Art Arena aus LED-Streifen markiert hat: der Ring, in dem Tessa ihre Kämpfe ausficht. Hinter ihrer Stärke steht immer das Bewusstsein, wieviel sie investieren musste, um an diese Position zu kommen. Als Frau mit einer wenig privilegierten Herkunft. In ihrem Fall auch: als schwarze Frau. Sie genießt ihre Triumphe, bestätigen sie sie doch in ihrem Glauben daran, alle Widerstände überwinden zu können. Nach dem Übergriff nimmt sie symbolträchtig ihre Perücke ab, die natürlich auch für die Rosshaar-Perücken britischer Anwält:innen steht, zeigt sich pur und verletzt. Aus dem Profi wird ein Mensch. Sie macht all die Fehler, die vergewaltigte Frauen aus Sicht des Justizsystems machen: Sie duscht sich den Schmutz und mit ihm die Beweise vom Körper, räumt die Wohnung auf.
Am Ende findet sie zurück zu ihrer Stärke, die sie in Zukunft mit Empathie verknüpfen wird, um das System zu verändern. Damit es nicht mehr ums Rechtkriegen geht, sondern ein wenig mehr um Gerechtigkeit. Dieses Stück ist ein Statement. Es bringt das Dilemma missbrauchter Frauen klug auf den Punkt. Nach diesem Abend ist klar, warum die Dunkelziffer bei Sexualdelikten so hoch ist, warum so viele Übergriffe nie zur Anzeige kommen. Weil das, was danach kommt, für viele Opfer nicht aushaltbar ist. Es ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit im System, für die Veränderung.