Foto: „Teorema di Pasolini” an der Deutschen Oper Berlin © Eike Walkenhorst
Text:Roland H. Dippel, am 10. Juni 2023
Die Deutsche Oper Berlin zeigt die Uraufführung von Giorgio Battistellis Musiktheater „Il Teorema di Pasolini” nach dem Film und Roman von Pier Paolo Pasolini. Am Beispiel einer italienischen Industriellenfamilie beschreibt das Stück den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.
Das Haus jubelte, trampelte, pfiff und freute sich wie der 71-jährige Giorgio Battistelli über den einhelligen Erfolg seines etwa 20. Musiktheater- Werks. Dem Grandseigneur der italienischen Gegenwartsmusik war etwas Außerordentliches gelungen. Er konterte den starken Bildern aus dem Film und Roman „Teorema oder Die nackten Füße“ von Pier Paolo Pasolini mit einer faszinierend subtilen, für deren Dauer von 100 Minuten dramatisch wie substanziell tragfähig spannenden Musik.
Im Strom zwischen Henze und Sciarrino
Battistelli illustrierte keine 1960-er Jahre Sounds, was anhand der sprachlichen und bildlichen Mehrdeutigkeit und Symbolkraft von Pasolinis Sujet das Projekt wohl zum Scheitern verurteilt hätte. Wenn die Zerbrechlichkeit von Battistellis „Teorema“-Klängen an seinen Kollegen Salvatore Sciarrino, der sorgfältige Tiefgang an die Qualität des musikalischen Satzes von Battistellis Förderer Hans Werner Henze denken lässt, ist das kein Eklektizismus. Mit feinsten Streicherlinien, aus vielfältig schattierenden und fluoreszierenden Soli der Hörner, der Hölzer und Farben wie zum Beispiel eines Akkordeons, das in der Orchesterbesetzung gar nicht aufscheint, entsteht Battistellis Musikstrom.
Dieser macht Daseinsdefizite hörbar und bewusst, beinhaltet selbst aber keinerlei technische oder ästhetischen Mangelerscheinungen. Dirigent Daniel Cohen und das Orchester der Deutschen Oper agieren – mit diskreter bis eleganter Unterstützung durch das Klangdesign von Benjamin Schulz – auf der Qualitätshöhe eines internationalen Spitzenhauses. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass – wann passiert das schon bei Neuer Musik? – der Abend zu ‚himmlischer Länge‘ gerät, Pasolinis Sujet nach 55 Jahren noch immer aufwühlt. Authentisch verhält sich Battistelli, wenn er wirkungsvoll für Stimmen schreibt – so für den fachtypischen Spintosopran von Ángeles Blancas Gulin als Lucia, für den (in einer Oper zu recht) sinnlich-vitalen Bariton von Nikolay Borchev (Ospite) und den steinerweichenden Schlussschrei von Davide Damiani als verlassener Familienvater Paolo.
Ein musikdramatischer Wurf ist Battistellis Oper nicht zuletzt, weil er ein großes Thema des 20. Jahrhundert aufgreift, sich nicht mit dessen nostalgischer Reproduktion zufrieden gab und seine mit Ian Burton vorgenommene Libretto-Fassung zu gedanklichen Neuansätzen herausfordert. Szymanowski, Wellesz, Henze hatten den Bassariden-Stoff vertont, in dem ein heiligenähnlicher Fremder den Lebenssinn von Menschen und damit ganze Gesellschaftssysteme erschüttert. Als Henze, der sich die Rechte zur Vertonung von „Teorema“ gesichert hatte und diese an Battistelli weitergegeben hatte, könnte er aufgrund der Analogie beider Stoffe auf die „Teorema“-Vertonung verzichtet haben. Battistelli griff sofort zu.
Die Münchener Biennale für Neues Musiktheater 1992 brachte in Koproduktion mit dem Maggio Musicale Fiorentino Battistellis seine „Musikalische Parabel“ für sechs stumme Darsteller und eine Sprechstimme heraus. Seine vollkommen andere zweite Vertonung ist um 35 Minuten länger und gibt jedem Part eine Singstimme. – Die andere Hürde übersprang Battistelli mit beiden Vertonungen. Ennio Morricones „Teorema“-Filmmusik erschien 1968 sofort auf Vinyl und war eine Qualitätsmarke.
Der Vatikan fand „Teorema“ obszön
Nach der Uraufführung erhielt Pasolini den internationalen katholischen Filmpreis, gleichzeitig beschlagnahmte der Vatikan „Teorema“ wegen Obszönität. Nichts sagt mehr über das Pasolinis Sujet von einem Fremden, der mit überirdischen, sinnlichen Schwingungen die Werte einer vierköpfigen Familie des italienischen Finanzadels aushöhlt, deren Mitglieder entfremdet und zur Flucht aus ihrer fragilen Existenz treibt: Pasolinis Theorem der Überwältigung der Großbourgeoisie und deren Erfahrung einer spirituell-erotischen Glückserfahrung schlug ein, machte den Film zu einem linken Kultobjekt und einem Fanal gegen Establishments.
Doch dieses Gedankenspiel Pasolinis über eine ‚echte‘ messianische Heilsgestalt sagt dem Zeitalter der Bodywatches und digitalen Virtualität kaum noch etwas. Die Neuverortung der Oper in einem Soziologie-Labor mit synthetischen Versuchsanordnungen durch Ben Kid (Dead Centre) ist demzufolge einleuchtend. Nina Wetzel simuliert in ihrer Ausstattung für die Raumzellen dieses Experiments das Dekor, Atmosphäre, Kolorit und Situationen von Pasolinis Film. Jede Partie ist verdoppelt zu einer singenden Person im wissenschaftlichen Team und einer stummen Figur in der Versuchsanordnung. Pasolinis Figuren werden zu Avataren aus auf den Portalschleier projizierten Datenerhebungen und anderer für den Versuch signifikanten Zahlen. Der Ospite/Gast gehört zum Forschungsteam und mengt sich in den Verlauf. Pasolinis vielschichtiges, mehrdeutiges und dabei religiös geprägtes Theorem-Spiel weitet sich zu einer fundamentalen Frage der sozialen Evolutionen in Zivilgesellschaften: Wie kommt der Mensch von seinen Gefühlen los und wird zum puren Vernunftwesen? Faszinierend und intensiv gerät diese Aufstellung durch ein hochkarätiges wie sensibles Ensemble: Ángeles Blancas Gulin / Paula D. Koch (Mutter Lucia), Davide Damiani / Christoph Schlemmer (Vater Paolo), Andrei Danilov / Eric Naumann (Sohn Pietro), Meechot Marrero / Nelida Martinez (Tochter Odetta), Monica Bacelli / Doris Gruner (Hausangestellte Emilia). Sie äffen Pasolinis Filmfiguren nicht nach, sondern füllen sie mit eigenem Leben.
Mit Fast-Ironie zeigt die virtuelle Versuchsaufstellung, was im 20. Jahrhundert noch ganz anders tickte als jetzt: Pasolini konnte sich noch auf die Schockwirkung der Darstellung von offener und latenter Homosexualität verlassen. Kettenrauchen als Ersatzhandlung war noch gesellschaftsfähig und die Materialverschleuderung für Moderne Kunst galt noch nicht als ökologische Todsünde. Das alles gibt es bei der „Teorema“-Versuchsanordnung der Deutschen Oper Berlin nur noch virtuell als Anschauungsmaterial für wissenschaftliches Personal in sterilen Laboranzügen. Aber das ist sicher nicht die letzte Inszenierungsidee, denn Battistellis Musik hält auch anderen Einsichten und moralischen Alternativen stand, selbst wenn die visuellen Gegebenheiten an der Deutschen Oper Berlin dank Sébastien Dupouey (Video) und Stephen Dodd (Licht) schwerlich zu übertreffen sind.