Barbara Schnitzler, Olivia Gräser und Sven Lehmann in Dea Lohers "Unschuld" am DT Berlin, auf der Bühne von Olaf Altmann.

Bergbewohner

Dea Loher: Unschuld

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:29.09.2011Regie:Michael Thalheimer

Zu einem schwarzen, steilen Kegel hat Olaf Altmann die Bühne für Dea Lohers „Unschuld“ zugespitzt. Einen guten Stand suchen die zwölf Figuren hier vergebens, von deren Schicksal viele kleine Geschichten erzählen. Rosa träumt verzweifelt vom trauten Familienglück und trippelt dabei vorsichtig die Schräge herab. Auf Krücken hievt sich ihre zynische, diabeteskranke Mutter über den gewaltigen Bergrücken. Die Eltern, deren Tochter bei einem Amoklauf umkam, stehen dagegen regungslos am Fuß des kreiselnden Aschebergs. Ganz oben predigt, standfest wie ein Prophet vom Berge, die alternde Philosophin von der „Unzuverlässigkeit der Welt“. Wer hinter diesem Gipfel des Ararat verschwindet, den mag das Meer verschlucken – so wie jene Frau, die Fadoul und Elisio, zwei Immigranten aus Afrika, nicht vor dem Ertrinken gerettet haben. Oder – Lichtwechsel – eine Wüstendüne führt jemanden plötzlich ins Nirgendwo. Unglücksmenschen sind sie alle, Figuren am Rande der Gesellschaft, getrieben von den Fragen um Schuld und Sühne.

Michael Thalheimer hat mit seinem eingespielten Team zum ersten Mal ein Stück von Dea Loher inszeniert. Ein Skeptiker trifft auf einen gefühls- und mitleidsstarken, von Sozialromantik nicht freien Text, ein Konzeptregisseur auf eine episodisch offene Erzählstruktur. Kann das gut gehen? Besser als man vermuten mag!

Während Thalheimer in der vergangenen Spielzeit Hauptmanns „Weber“ am selben Theater in nur einem Ton durchbrüllen ließ, gesteht er den Loherschen Figuren ein größeres Ausdrucksspektrum zu. So ist die blinde Stripteasetänzerin Absolut bei Katrin Wichmann eine durchaus „realistische“, gut geerdete Person. Ingo Hülsmann dagegen darf die Philosophin zu einer grotesk stilisierten Weltverächterin überspitzen; blutig ermordet sie ihren Mann, als sauge eine gierige Spinne eine Fliege aus. Bert Wrede unterlegt den Abend mit zwei, drei Melodien, die in Endlosschleifen repetiert werden.

Thalheimers Methode, einen Text auf sein Wesentliches zu reduzieren, erweist sich hier als sinnvoll: Bevor sich das Stück in Stimmungen und Einzelheiten verliert, arbeitet der Regisseur aus Lohers tragikomischen Figuren deutliche Gegenpositionen heraus: Die einen wollen glauben und verirren sich im Wahn, allem einen Sinn geben zu können. Die anderen verzweifeln an der Sinnlosigkeit der Welt oder erheben die Naturwissenschaften zum neuen Glauben. Durchweg prägnant das zwölfköpfige Ensemble.

Ein Abend, der überzeugen kann. Die Regie hält kühle, künstliche Distanz zu den Schicksalen auf der Bühne, ohne doch die emotionalen, manchmal auch sentimentalen Töne des Stücks völlig zu eliminieren. Thalheimer und Loher – diese Annäherung hat sich gelohnt.