Foto: Ensembleszene © A. T. Schaefer
Text:Klaus Kalchschmid, am 7. Juli 2016
Ein Happy End sieht anders aus und es hört sich auch anders an: Wenn am Schluss von Vincenzo Bellinis phantastisch-märchenhafter letzter Oper „I Puritani“ der in Kampfhandlungen zwischen den Engländern und den Stuarts erblindete Arturo auf seine wahnsinnig gewordene Elvira trifft, dann sind beide im Innersten Versehrte und finden nicht wirklich wieder zueinander – und in die Wirklichkeit hinein. Denn am Ende schließt sich Arturo den bigotten Puritanern im England um 1650 an, die in den Kostümen von Anna Viebrock auch ein bisschen aussehen wie Mitglieder der Shaker, Mennoniten oder Amish People von heute und den ganzen Abend demonstrativ penetrant das Gebetbuch wie zum Schutz vor Vampyren vor sich hertrugen. Elvira bleibt einmal mehr allein zurück – wieder dem Wahn befremdlich nahe, obwohl sie scheinbar verstanden hat, warum Arturo drei Monate zuvor mit Enrichetta von Frankreich (Diana Haller) geflohen ist, um sie vor dem Schafott zu retten.
So zumindest erzählen es Jossi Wieler und Sergio Morabito in ihrer vielleicht erstmals in der Aufführungsgeschichte ungekürzten Inszenierung, die drei Stunden reine Musik umfasst. Arturo war Elvira hier im ersten Akt als Bräutigam wie ein Traumbild aus dem Film erschienen: rot-weiß-golden schillernd kostümiert als einer der drei Musketiere mit Federhut und vor sich herstolzierend wie ein Gockel. Das Stuttgarter Regie-Duo inszenierte diesen ganzen ersten Akt denn auch fast wie eine Operette, nahm die vielfältigen Tanzcharaktere der Musik zugleich ernst und auf Schippe. Erst ganz am Ende driftete die Szene ins brutal Ernsthafte, wenn der von Elvira verschmähte Riccardo sie an der Rampe zu vergewaltigen versucht. Vorher raste dieser – zugleich furchterregend und erzkomisch – mit einem Beil in einer herrlich slapstickhaften Szene gegen seinen Rivalen Arturo, der ihn schließlich mit dem Degen verletzt.
Gezim Myshketa besitzt für den Riccardo nicht nur eine vitale Bühnenpräsenz, die zwischen gefährlichem Furor und komödiantischer Verve hin und her schwanken kann, sondern auch einen kernig auftrumpfenden, ebenso schönen wie mühelos auch im Piano trgfähigen Bariton. Im kriegerisch delirierenden Duett mit dem nicht minder exzellenten – und herrlich komischen – jungen Bassisten Adam Palka als Onkel Elviras, der Riccardo erfolgreich überredet, mit der Rache an Arturo zu warten, bis er ihn im Kampf töten kann, findet der zweite Akt einen prall effektvollen Abschluß.
Anna Viebrock hat für diese Zeitreise eines ihrer schönen, die Jahrhunderte übergreifenden Rätsel-Bühnenbilder gebaut. Alle drei Wände können sich bewegen und gegeneinander verschieben; im Hintergrund gibt es einen zweistöckigen quasi historischen Abschluss, ein gewaltiger Eisenträger durchschießt den Raum und stellt auch schon einmal eine Brücke dar. Berühmte historische Gemälde dienen zur Demonstration oder zum Versteck. So ist die Einheitsbühne Seelenraum und historisches Vexierspiel, in der alles zu allem kommen kann.
Im Zentrum der Handlung steht die junge Elvira in Gestalt der zugleich zart und höchst erfüllt singenden Ana Durlowski, deren lyrischer Koloratursopran auch in der Mittellage einen klingenden Körper besitzt und in der Höhe nie spitz klingt. Wenn sie in ihrer großen Wahnsinnszene von tiefem Schmerz und Leiden singt, spielt sie das mit großer, heiterer Leichtigkeit: was für ein berührender Kontrast, von Wieler/Morabito auch sonst immer wieder aus Partitur und Text gekitzelt. Edgardo Rocha als Arturo meistert seinen filmreif exaltiert komischen ersten Auftritt ebenso fulminant wie die Rückkehr als gebrochener Mann am Blindenstock, dem Elvira nun übel mitspielt. Seinen leichten und doch substanzreichen hohen Tenor vermag er auch im hohen zweigestrichenen D – oder gar noch höher – ohne Brunftgeschrei zu meistern, sondern fein im Pianissimo anzusetzen.
Doch noch so fähige Sänger des Bel Canto, die bis auf Edgardo Rocha aus dem Ensemble der Staatsoper Stuttart kommen, könnten ohne Musiker nicht triumphieren, die bei Giuliano Carella am Pult des Staatsorchesters Stuttgart Phänomenales leistet, das ganz selten zu laut ist, immer in den richtigen flexiblen Tempi agiert und mit einer bewundernswerten Aura die „melodie lunghe, lunghe, lunghe“ (so Verdi voller Bewunderung) spielt, dass man am Ende selig das Opernhaus verlässt.