Foto: AJ Glueckert (Graf Vaudémont) und Asmik Grigorian (Iolanta) © Barbara Aumüller
Text:Georg Rudiger, am 29. Oktober 2018
Lydia Steier inszeniert an der Frankfurter Oper einen beklemmenden Doppelabend: Igor Strawinsky / Peter Tschaikowksy: „Oedipus Rex / Iolanta“
„Nos sumus populus“ (Wir sind das Volk) und „Thebae semper primo“ (Theben immer zuerst) steht auf den Schildern der Anzugträger. Ihr Führer verspricht die Lösung aller Probleme. Lydia Steiers in die Weimarer Republik verlegte Inszenierung von „Oedipus Rex“ an der Frankfurter Oper kommt manchem Premierengast beängstigend nah, zumal er beim Blick auf das Handy in der Pause vom erstmaligen Einzug der AfD in den hessischen Landtag erfährt. Während sich die amerikanische Regisseurin bei ihrer Salzburger „Zauberflöte“ im Sommer in den Erzählsträngen verhedderte, gelingen ihr an diesem Frankfurter Doppelabend gleich zwei aufwühlende Deutungen, denn neben Strawinskys lateinischem Opernoratorium steht noch Tschaikowskys letzte Oper „Iolanta“ auf dem Programm. So unterschiedlich die beiden Werke musikalisch sind – Lydia Steier entdeckt Gemeinsamkeiten. Angst regiert im antiken Theben wie im Frankreich des 15. Jahrhunderts die Gesellschaft. Beide Titelfiguren können oder wollen die Realität nicht sehen. Es geht um Schuld und Sühne und um Verdrängtes, das ans Licht kommt. Auf der einen Seite Mord und Inzest, auf der anderen Seite Missbrauch durch den Vater.
Für das 1927 uraufgeführte, auf lateinisch verfasste Opernoratorium „Oedipus Rex“ hat Bühnenbildnerin Barbara Ehnes das Parlament der Weimarer Republik nachgebaut. An den Kopfbedeckungen erkennt man die ganze Breite der Gesellschaft – von der Schiebermütze über Melone und Zylinder bis zum Stahlhelm (Kostüme: Alfred Mayerhofer). Der Chor der Frankfurter Oper (Leitung: Tilman Michael) wird von Lydia Steier individualisiert. Das ist keine homogene Masse, sondern eine ganz realistische Männergruppe mit Rivalitäten und klaren Hierarchien. Beeindruckend, wie sich die kultivierten Herren allmählich radikalisieren, wie Protest in Gewalt umschlägt, ehe am Ende das Militär die Macht übernimmt und das Volk dem neuen starken Führer Kreon (Gary Griffiths) zujubelt. Der Machtverlust von Ödipus kommt schleichend. Am Anfang hetzt er selbst noch gegen Kreon und den blinden Seher Teiresias (Andreas Bauer), der ihm das bittere Orakel verkündet. Seine Vorgeschichte – die Tötung des Vaters Laios und die Heirat seiner Mutter Jokaste – wird in den gesprochenen Texten von Librettist Jean Cocteau und Videos (fettFilm) offenbar. Peter Marsh singt diesen Ödipus mit lyrischem, fast knabenhaften Tenor. Und verleiht ihm eine Fragilität, die seinen Zusammenbruch am Ende schon andeutet. Tanja Ariane Baumgartner ist eine selbstbewusste, über eine satte Tiefe verfügende Jokaste. Lydia Steier gelingt eine differenzierte Zeichnung dieser Gesellschaft. Da kann auch mal eine ABC-Maske, die zum Schutz vor der ausgebrochenen Pest angelegt wird, zum sexuellen Fetisch werden. Sebastian Weigle findet mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester Strawinskys unerbittlichen Puls, der meist von Klavier und Pauke mitgetragen wird. Manches könnte bei der Premiere noch präziser ausfallen, um die beharrende Kraft dieser statischen Musik zu betonen, aber dem GMD gelingt durchaus eine ausgewogene, gut ausbalancierte Interpretation. Am Ende hängt Jokaste am Galgen, und Ödipus hat sich geblendet. Eine neue, weit düsterere Zeit bricht an.
Noch eine Spur beklemmender gestaltet Lydia Steier Peter Tschaikowskys Einakter nach der Pause. Iolantas Paradies, in dem sie von ihrem Vater von der Außenwelt abgeschirmt wird, ist ein Alptraum in Pink. Alle Wände sind mit blonden, pinkgekleideten Puppen dekoriert. Auch die blinde Iolanta darf nicht erwachsen werden und wird vom strengen Hofstaat als Puppe ausstaffiert. Unten sitzen die Arbeiterinnen an den Scheren und Nähmaschinen, um Nachschub zu liefern für diesen Kitschpalast. König Réne (darstellerisch präsenter als sängerisch: Robert Pomakow) lässt nicht nur die Arbeiterinnen in lächelnden Masken einen Folkloretanz aufführen, sondern auch einen Baum vom Theaterhimmel herunterschweben, um zur berückenden Musik aus dem Orchestergraben den schönen Schein aufrecht zu erhalten. Asmik Grigorian sitzt mit leerem Blick auf dem Bett. Sie habe Augen, um zu weinen, wird diese Iolanta später sagen, ehe sie dann doch vom arabischen Arzt Ibn-Hakia (mit voluminösem Bass: Andreas Bauer) von ihrer Blindheit geheilt wird.
Regisseurin Lydia Steier möchte das genauer wissen und fragt nach der Ursache dieses Leidens. Den Missbrauch durch den Vater zeigt sie in verstörenden Bildern. Es ist Asmik Grigorian, die diese fordernde Rollenzeichnung zu einem packenden und glaubwürdigen Porträt gestaltet. Die litauische Sopranistin, die bei den Salzburger Festspielen als Salome Maßstäbe setzte, zeigt in allen Nuancen die allmähliche Emanzipation vom geknechteten Kind bis zur selbstbestimmten Frau. Ihr dunkel gefärbter, sehr körperlicher Sopran bleibt lange verhalten, ehe diese Iolanta durch Graf Vaudémont (mit enormer Leuchtkraft: AJ Glueckert) die Wahrheit und auch die Liebe entdeckt. Am Ende sind Grigorians fulminante Spitzentöne Schreie gegen den übergriffigen Vater. Sie greift zu seiner Pistole, hat aber nicht die Kraft abzudrücken. Er selbst nimmt sie ihr aus der Hand – und richtet den Lauf in seinen Mund.