Foto: Amalia Fernàndez und Maria Jerez im spanischen Gastspiel beim Sommerfestival auf Kampnagel. © Ellen Coenders
Text:Jens Fischer, am 15. August 2011
Paradiesisch müsse sich der Theaterfreund in Deutschland fühlen, sagen viele anderswo beheimatete Menschen dieser Spezies – angesichts der sinne- und geistbetörenden Vielfalt, was Themen und Ästhetiken der Stadt-, Staats- und freien Theater betrifft. Aber Paradies reicht ja nicht, Verlockungen werden gesucht – wenn die deutschen Theaterautoritäten im Urlaub weilen. Und so lassen wir uns sommerlich gern verführen von dramatischen Früchtchen, die ein globalisierter Kulturmarkt auf den Festivals feilbietet. Wir betrachten Aufführungen, die von ganz weit weg importiert werden – und schämen uns dann nicht festzustellen: Das mit dem Theaterparadies ist so falsch nicht. Umso erfreulicher, wenn auch erfrischende Akzentuierungen zu erleben sind, was auf Bühnen noch so alles funktionieren könnte. Beispielsweise beim Hamburger Sommerfestival auf Kampnagel. Erstmals stehen zu den Fördergeldern der Stadt auch Bundesmitteln zur Verfügung, so dass Festival-Tourneeproduktionen nicht nur koproduziert – auch initiiert werden konnten. Wie eine Uraufführung der Spanierin Cuqui Jerez. Sie reduziert Theater einfach kompliziert aufs Spiel, dem die Inszenierung nicht anzusehen ist. Lässige Alltagsklamotten statt bedeutungsvoller Kostüme, Requisitenspielzeug statt Bühnenbild, Aneinanderreihung von Situationen statt Stückentwicklung, Helligkeit statt Lichtstimmungen, Spontaneität statt Darstellungskunst. Zwei Schauspielerinnen improvisieren nicht, sie spielen Improvisation. Verweisen auch immer wieder auf diesen Unterschied, indem sie scheinbar aus dem Moment geborene szenische Miniaturen wohlfeil choreografiert wiederholen, einfach so herausgeplaudert wirkende Sätze noch einmal sprechen, Wort für Wort sich abwechselnd oder unisono.
Aber wie geht’s los? Einfach mal so! Jeder wäre ja gern derart schönreichberühmt wie „Brangelina“, also spielen Maria Jerez und Amalia Fernández mal Brad Pitt und Angelina Jolie, wie sie sich kennen lernen, wieder trennen wollen, mit dem Taxi fahren, dann scheint plötzlich der Taxifahrer interessanter zu sein, also werden seine Gedanken verlebendigt, irgendwelche Kinderzimmerszenen dahingejuxt, dann mal ein Pitt-Jolie-Filmplakat nachgestellt – usw. usf. kommt die Aufführung vom Hölzchen aufs Stöckchen, eine innere Logik erschließt sich nicht, die Orientierung geht verloren im Assoziationsdschungel. Aber genau dieser Duktus ist der Inhalt: Ablenkung vom vergessenen Kern eines Lebens in Abschweifungen, Tagträumen, Gedankensprüngen, dem steten Unterwegssein zwischen Erinnerung und Projektion in die Zukunft. Wobei die einzig und allein anwesende Gegenwart aus dem Fokus gerät. Und eben die Nachfrage provoziert: Wo oder wann bin ich denn in diesem Dasein? Das wird mal irritierend klug, mal naiv albern, aber immer atemberaubend leicht serviert.
Im zweiten Teil des Abends wirbeln die Darstellerinnen das Gründelnde vollends durcheinander. All der Krimskrams, den Cuqui Jerez auf die Bühne legt, wird in Miniaturwelten, Geschichten integriert, in Rollenspiele, wie wir sie von Kindern kennen, die alles und jedes mit Bedeutung aufladen, in ihre Fantasie einbauen können, um Erlebtes nachzustellen und kreativ zu verarbeiten – oder im So-tun-als-ob einmal mit Identitäten zu experimentieren. Also auch wieder die Frage: Wer, was, wie, wo, wann ist denn dabei das so genannte Ich?
So gekonnt nonchalant dilettantisch wie Jerez würden die meisten freien Theater das Sein-Schein-Konglomerat wohl nicht auf die Bühne bekommen. So erfrischend unaufdringlich, unspektakulär, undramatisch, so rein kinderspielverzückt würde ein deutsches Stadttheater es wohl nicht zu inszenieren wagen, obwohl Regisseure wie Antú Romero Nunes oder Jan-Christoph Gockel einen ähnlichen Ansatz verfolgen. Jerez aber treibt die Beiläufigkeit zur Perfektion. Und Eltern im Publikum in besonders amüsierte Entspannung: Zuschauen durfte man, auch mal mitspielen – muss anschließend aber nicht helfen, die vollgetüdelte Kinderzimmerbühne aufzuräumen. Paradiesisch!